Sonntag, 29. Mai 2016

Mystica Venezia von Christine Erdiç




Eine verschwundene Braut, ein Sensenmann als Gondoliere, eine blinde Malerin, ein seltsames Zeichen an einer Mauer und ein geheimnisvoller Orden, Guido hat sich seine Hochzeitsreise nach Venedig dann doch etwas anders vorgestellt. Verzweifelt macht er sich gemeinsam mit seiner Schwägerin Ana Karina in den Wirren des Karnevals, der durch die engen Gassen der Lagunenstadt tobt, auf die fast aussichtslose Suche nach Christina Maria und stößt dabei auf eine uralte Legende. Ab 14 Jahren
Mystica Venzia gibt es im Buch- und Onlinehandel (z.B. Amazon) oder direkt beim Karina- Verlag.

Leseprobe

 „Ich dachte immer, Hexen wohnen im Wald“, meckerte Guido unzufrieden.
„Sei mal froh, dass sie hier in der Stadt wohnt und wir nicht noch durch einen Wald kraxeln müssen, jetzt im Dunkeln“, zischte Ana Karina verärgert zurück. Ergeben seufzend trottete Guido hinter seiner Schwägerin her, die jetzt die alte Holztür öffnete und langsam die knarrenden Stufen emporstieg. Im Flur roch es undefinierbar nach Essensresten, Schimmel und angefaultem Holz. Das Haus hatte sicherlich auch schon bessere Zeiten gesehen. Guido rümpfte angewidert seine Nase.
Natürlich wohnte die Hexe ganz oben unter dem Dach. Wie konnte es auch anders sein?!
Guido schnaufte und rang nach Luft. Doch dann fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf.
‚Wie eine Kröte sieht er aus‘, dachte Ana Karina und grinste vergnügt vor sich hin. Die Tür war aufgegangen, noch bevor sie klopfen konnten, und vor ihnen stand eine wunderschöne Frau mit den faszinierendsten Augen, die Guido je gesehen hatte. Das Blau schimmerte beinahe violett und stand im Kontrast zu den kohlrabenschwarzen Locken, die ein faltenloses und fast markantes Gesicht wie eine Mähne umrahmten.
,Die Hexe trägt Jeans und eine weiße Bluse’, fuhr es Guido durch den Kopf.
„Kommt doch rein, meine Lieben … Ana Karina, mein Herzblatt“, gurrte die Hexe freundlich. Auf ihrer Schulter saß eine weiße Ratte und musterte die Gäste kritisch mit ihren klugen Augen. Ana Karina umarmte Estrella stürmisch und streichelte dann die Ratte.
„Na was ist, junger Mann“, lachte die Hexe. „Willst du da Wurzeln schlagen?“
Drinnen sagte sie belustigt:
„Die Menschen denken immer, ich müsse weiße Haare, ein Kopftuch und eine schwarze Katze auf dem Buckel haben. Aber ich habe schwarzes Haar und eine weiße Ratte. Das haut die meisten erstmal aus den Pantinen. Darf ich vorstellen: Cinderella. Mach einen Knix, altes Mädel.“ Genüsslich blies sie den Rauch ihrer Zigarette durch die Nasenlöcher. Überall im Raum glimmten Räucherstäbchen. Guido hustete, und die Ratte machte doch tatsächlich eine Bewegung auf Estrellas Schulter, die fast wie ein Knix anmutete. Ana Karina grinste.
 „Was führt dich zu mir, Kleines?“, fragte die Hexe.
„Oh wartet, ich bin eine schlechte Gastgeberin.“ Gemeinsam mit Cinderella verschwand sie in der Küche und kehrte nach heftigem Geklapper mit einem Tablett, auf dem drei dampfende Kaffeetassen, eine Zuckerdose, ein Milchkännchen und ein Teller mit allerlei Gebäck standen, zurück.
„Und noch eine irrige Ansicht“, sagte sie mit einem Seitenblick auf Guido.
„Wir stehen nicht unbedingt alle auf Kräutertee.“
„Mein Schwager ist übrigens der Ansicht, dass alle Hexen in einer Hütte im Wald wohnen“, gluckste Ana Karina.
„Ja, wär schön als Altersruhesitz, so eine schicke Hütte im Schwarzwald. Aber ich denke, ich ziehe doch die Zentralheizung einem Ofen vor, und auch die Einkaufsmöglichkeiten sind hier in der Stadt wesentlich besser.“ Sie zog die Stirn kraus und ließ Cinderella über ihren Arm abwärts turnen.
„Aber nur einen Keks, du bekommst sonst ein Bäuchlein“, sagte sie dabei streng. Zu Guidos Entsetzen hüpfte die zierliche Ratte mit einem eleganten Satz direkt auf den Tisch.

©byChristine Erdic

Autorenvita:

Christine Erdiç wurde 1961 in Deutschland geboren.
Sie interessierte sich von frühester Kindheit an für Literatur und Malerei und verfasste schon damals oft kleine Geschichten und Gedichte, die sie jedoch nie veröffentlichte.
Nach dem Abitur war sie in unterschiedlichen Bereichen tätig und reiste viel.
Seit 1986 ist sie verheiratet, hat zwei Töchter und lebt seit dem Millenium in der Türkei.
Unter anderem gab sie Sprachtraining an der Universität von Izmir, machte Übersetzungen und verfasste Berichte für die Türkische Allgemeine, eine ehemalige Zeitschrift in deutscher Sprache und gibt heute noch private Deutschstunden

homepage: http://christineerdic.jimdo.com/

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