Sonntag, 2. August 2015

Schottlands Wächter von Katharina Gerlach




Ein Gesicht ohne Nase sieht Bryanna aus einem Fenster eines Wohnhauses in Edinburgh an, und eine behaarte Hand winkt ihr. Ein Brownie! Sie blinzelt und schüttelt den Kopf. Unmöglich. Brownies gibt es nur in Büchern. Doch der Brownie ist nicht das einzige Fabelwesen, das ihr auf dem Heimweg begegnet. Vielleicht halluziniere ich, denkt sie und beschließt, mit ihrem Vater zu reden.

Doch der wird vor ihren Augen von einer Fremden entführt, deren Geruch Bryanna seltsam bekannt vorkommt. Ohne zu zögern folgt sie den beiden und landet Hals über Kopf im Abenteuer ihres Lebens. Die Welt, in die sie gerät, ist mörderisch gefährlich. Und falls sie die Reise überlebt, scheint sie dazu verdammt, ihren Vater wegen seines Geheimnisses töten zu müssen.

Erhältlich bei Amazon und Weltbild.
Das Hörbuch erscheint im Herbst 2015


Kapitel Eins
Bryanna saß in der oberen Etage eines rötlich-braunen Doppeldeckerbusses. Da der Bus bereits gut besetzt war als sie einstieg, hatte sie keinen der vorderen Sitze ergattern können und saß nun direkt an der Treppe. Mit roten Ohren starrte die Vierzehnjährige aus dem Seitenfenster. Sie spürte förmlich die fragenden Blicke der anderen Fahrgäste. Verschämt sank sie tiefer in ihren Sitz, denn sie war die Einzige in Schuluniform. Am ersten Ferientag! Warum musste mir Jenny ausgerechnet heute Kaffee auf die Hose schütten, dachte sie. Es ist megapeinlich in den Ferien in Schuluniform rumzulaufen. Ich hätte nicht bei Jenny übernachten sollen.
Sie schielte auf den Monitor der Überwachungskameras in der Nähe der Frontscheibe, der abwechselnd die untere und die obere Etage zeigte. Eine Gruppe halbwüchsiger Mädchen sah kichernd aus dem Fenster und zeigte auf einen Mann im Kilt. Die anderen Leute starrten aus den Fenstern oder lasen Zeitung. Niemand beachtete sie. Sie entspannte sich. Ihr Handy klingelte.
Schatz, sagte ihr Vater. Schnapp dir eine Sun und lies den Artikel auf der Titelseite.
Ich sitze im Bus, Dad. Bryanna hielt die Hand vor den Mund und flüsterte. Ich habe keine Zeitung. Zwei Männer gingen auf dem Weg nach unten an ihr vorbei.
Sieh dich um. Irgendjemand lässt immer eine liegen. Zeitungen gehören zu Bussen, wie Nessi zum Loch. Wahrscheinlich liegt eine gleich neben dir auf dem Sitz.
Er hatte recht. Dort lag eine Zeitung auf einem frei gewordenen Sitz auf der anderen Seite des Ganges. Bryanna war sich sicher, dass sie eine Minute zuvor nicht dort gewesen war. Woher wusste Dad, dass hier eine Zeitung sein würde? Sie sah sich um. Wahrscheinlich hat sie einer der Typen, die grade an mir vorbei­gegangen sind, liegen gelassen. Schließlich kann Dad nicht zaubern. Sie beugte sich vor und las die Schlagzeile.
Deutsche vom Loch Ness Monster angegriffen.
Das war genau die Art Artikel für die ihr Vater interviewt werden würde. Bryanna nahm die Zeitung und las.
Die 18-jährige Schülerin behauptet am Montag­abend vom Loch Ness Monster angegriffen worden zu sein. Ihre Reisegruppe war auf einer Wander­expedition durch den Westen Schottlands. Nach­dem die Jugendlichen trotz des ungemütlichen Wetters ihre Zelte am Ufer von Loch Morar auf­gestellt hatten, ging das Mädchen zum Wasser hinunter. Wenige Minuten später wurde der Rest der Gruppe von ihren Schreien herbeigelockt, wo sie das Mädchen bewusstlos vorfanden. Die Acht­zehnjährige stand unter Schock und wurde in ein nahe gelegenes Krankenhaus eingeliefert. Sie be­hauptet das Monster sei direkt vor ihr aufge­taucht. Sein Kopf hätte die Größe eines kleinen Elefanten und es hatte kleine, aber sehr scharfe, spitze Zähne.
Kryptozoologe Prof. Angus McCon­na­chie
Bryanna unterbrach die Lektüre. Dad, was meinst du, wie viele Leser der Sun wissen wohl, dass sich die Kryptozoologie mit den Ursprüngen und Hintergründen von mythologischen Wesen beschäftigt?
Ihr Vater lachte, was verzerrt und metallisch durch das Handy klang. Bryanna schob es tiefer in ihre Hals­beuge, damit es nicht wegrutschte. In Gedanken änderte sie den Satzanfang in Monsterjäger Angus McConnachie…”
bestätigt, dass die detaillierte Beschreibung des Mädchens der von anderen Augenzeugen entspricht. Allerdings geht er nicht von einem Angriff aus, zumal alle unverletzt geblieben sind. Er weist darauf hin, dass seit dem Mittelalter niemand mehr von einem Loch-Monster ange­griffen wurde. Natürlich wird seine Sachkenntnis von einigen Forschern der Universität Edinburgh angezweifelt. Professor Duncan McNicholl
Bryanna legte die Zeitung zur Seite. Sie wusste, dass ihr Vater in der von Logik dominierten Welt der Wissenschaft nicht sehr willkommen war. Zu seltsam war das Thema, dem er sein Leben gewidmet hatte.
Die Stimme ihres Vaters unterbrach ihre Gedanken.
Ein Artikel über meine Forschung auf der Titelseite! Ist das nicht wunderbar?
Ja, Dad, sagte Bryanna, aber sie lächelte nicht. Was war schon so Besonderes daran, sich vor aller Welt lächerlich zu machen.
Bring die Zeitung mit. Ich will deiner Mutter eine Kopie schicken.
Ja, Dad. Bryanna zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich ist Mutter an dem Artikel genauso interessiert, wie an meiner Erziehung. Sie schaltete das Handy aus und steckte es mit der Zeitung zusammen in ihren Ranzen. Sie seufzte erneut und sah aus dem Fenster.
Eine Hand berührte ihre Schulter sanft, und eine seidige Stimme flüsterte: Sag deinem Vater, seine Zeit wird knapp.
Als Bryanna herumfuhr, stieg die Frau bereits die Treppe hinunter. Sie war rundlich gebaut und hatte ein Vollmondesicht mit einer Stupsnase. Irgendwie erinnerte sie Bryanna an einen Seehund. Kurz bevor sie außer Sicht geriet, winkte sie. Ihre Finger waren durch Schwimmhäute miteinander verbunden. Bryanna schüttelte den Kopf. Das kann nicht sein. Ich muss es mir eingebildet haben. Sie zog den Schulranzen und die Tasche mit den schmutzigen Sachen dichter an sich heran. Ich wünschte Vater hätte mich abgeholt.
Der Bus erwachte zum Leben, verließ St. Andrews Station und rollte mit einer schneckenartigen Geschwindigkeit die Straße entlang. Bryanna sah aus dem Fenster und ließ ihren Blick über das übliche Verkehrschaos in Edinburghs Innenstadt schweifen. Die Straßen um den Busbahnhof waren trotz des Nieselregens so überfüllt wie immer. Einem Dudelsackpfeifer, der unter der Markise eines Souvenirladens auf dem Bürgersteig stand, gelang es ein paar Mal, beim Versuch Touristen anzulocken, den Verkehrslärm zu übertönen. Die wehmütige, schnarrende Melodie drang durch eine offene Klappe in einem der Seitenfenster des Busses.
An der Kreuzung zum Waverley Bahnhof reihte sich eine schwarze Kutsche vor dem Bus ein. Es war keiner der offenen Einspänner für Touristen, sondern ein geschlossener Vierspänner. Die Tür zierte ein Wappen, aber Bryanna hatte nicht genug Zeit, es genauer zu betrachten.
Wie schön, dass es immer noch Leute gibt, die mit Pferd und Wagen fahren. Sie stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, als die Stadt noch mit Reitern, Karren und Kutschen verstopft war, nicht mit Autos. Sie ignorierte die Häuser auf der rechten Straßenseite mit ihren vielen Geschäften und den zahlreichen Fußgängern und ließ ihren Blick träumerisch über die linke Straßenseite wandern.
Die gelblichen Steinfinger von Edin­burgh Castle ragten aus den dunklen, steilen Basaltfelsen am Rande von Princess Street Gardens in den Himmel. Im Park, der sich vom Waverley Bahnhof mehrere hundert Meter nach Westen erstreckte, schoben die ersten Blumen ihre Köpfe durch die matschige Erde. So grau der Garten auch wirkte, der Frühling war unterwegs. Hoffentlich fährt Papa mit mir mal wieder in die Highlands, wenn das Wetter besser wird.
Als der Bus die Türen für weitere Fahrgäste öffnete, starrte sie auf den schmalen Garten zu Füßen des Schlosses und malte sich aus, was sie mit ihrem Vater in den Ferien alles tun würde. Das Gras der Parkanlage wirkte müde und blass. Nur einige Schneeglöckchen kämpften gegen die graue Nässe, die das Frühjahr in Edinburgh dominierte. Nicht weit von der Haltestelle saß ein gigantischer Vogel im Geäst eines kahlen Baumes und betrachtete die Tauben auf dem Weg darunter. Der feine Regen ließ sein schwarzes Gefieder glänzen wie Obsidian. Er war mindestens doppelt so groß wie ein Mensch. Sein Hakenschnabel klappte hungrig auf und zu, während die Krallen an seinen Schwimmfüßen tiefe Löcher in dem Ast hinterließen, auf dem er saß.
Ein Boobrie! Bryanna starrte den Sagenvogel mit offenem Mund an. Das Zischen der Türen ließ sie zusammenzucken. Sie sah zu den Menschen hinunter, die sich auf dem schmalen Bürgersteig an den wartenden Fahrgästen vorbei schoben. Keiner schien den Riesenvogel zu bemerken.
Bin ich denn die Einzige, die ihn sehen kann? Der Boobrie breitete seine gewaltigen Schwingen aus und flog höher und höher, bis er im Blau des Himmels kaum noch zu sehen war. Bryanna sah ihm zu, wie er über dem Schloss kreiste, das mit seinen massiven Wänden und Türmchen den Park und das Stadtzentrum überragte. Sie schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich werde verrückt. Ein Boobrie! Da hat mir meine Fantasie wieder einen schönen Streich gespielt. Bryanna wendete den Blick vom Schloss ab. Und es war so unglaublich realistisch. Ich muss noch einmal mit Vater reden. Vielleicht sollte ich doch einen Psychiater aufsuchen.
Um sich abzulenken, betrachtete Bryanna die Läden und Häuser auf der anderen Straßenseite. Sie waren drei oder vier Stockwerke hoch und bis auf die Mündungen der Seitenstraßen lückenlos nebeneinander gebaut. Der Bus quälte sich von Ampel zu Ampel, so dass Bryanna genug Zeit hatte, in die Fenster der Gebäude zu gucken. Da es sich überwiegend um Läden handelte, war das Spiel nicht so spannend wie in einer Wohngegend, aber es lenkte sie von der Frau mit den Schwimmhäuten und dem Boobrie ab.
Wieder hielt der Bus an einer Ampel. Ein braunes, faltiges Gesicht mit wilder, rotbrauner Löwenmähne und ohne erkennbare Nase sah aus einem Fenster, und eine kleine, braune Hand winkte ihr zu. Es war eindeutig einer der helfenden Hausgeister, die Brownies genannt wurden. Bryanna schlug die Hände vor das Gesicht.
Es gibt keine Fabelwesen, flüsterte sie mehrmals. Es war wie ein Gebet oder ein Zauberspruch, und es half. Als sie die Hände wieder sinken ließ, war der Brownie verschwunden. Besorgt betrachtete sie die Fassaden der Häuser und die großen Schaufenster der Geschäfte, sah aber keinen weiteren Brownie.
Sie atmete erleichtert auf. Der Bus schob sich durch den Feierabendverkehr, hin und wieder durch Bauarbeiten behindert. Geschäftig wie Ameisen eilten auf den Bürger­steigen Menschen verschiedenster Rassen hin und her. Als kein weiteres Fabelwesen auftauchte, entspannte sich Bryanna und sah auf den Monitor der Überwachungskameras. Er zeigte ihr die Fahrgäste auf den Sitzen hinter ihr. Viele waren bereits ausgestiegen, und so waren die meisten blauen Sitze mit dem rot-grün-weißen Tartanmuster leer. Ein Mann auf dem Bürgersteig betrachtete die Auslage eines Comic-Shops.
Nur noch wenige Haltestellen bis zu Bryannas Stopp, und noch immer fuhr die schwarze Kutsche vor dem Bus durch den Regen. Bryanna fragte sich, wo sie wohl hin wollte. Sie war fast ein wenig enttäuscht, als der Bus zum Salisbury Place einbog, und die Kutsche geradeaus fuhr. Ich wünschte, ich könnte sie Dad zeigen. Das würde ihm gefallen. Bryannas Magen knurrte. Gut, dass es bald Mittagessen gibt. Das gemeinsame Mittagessen in ihrem viktorianisch eingerichteten Speisezimmer war ein kleines Ritual. Sie liebte es, ihrem Vater von der Schule zu erzählen oder seiner tiefen Stimme zu lauschen, auch wenn sie seine neuesten Forschungsergebnisse nicht besonders interessierten. Ihr Vater gab ihr das Gefühl bereits erwachsen zu sein. Für ihn war sie jemand, mit dem er sich über alles unterhalten konnte.
Der Turm der Kapelle am Eingangstor des Friedhofs kam in Sicht. Bryanna nahm ihre Taschen und drückte den Knopf, der den Fahrer aufforderte, den Bus anzuhalten. Vorsichtig stieg sie die Treppe hinunter und verließ den Bus, kaum dass er hielt. Draußen zog sie die Kapuze des Regenmantels über ihre schwarzen Zöpfe und ging den schmalen Weg an der Friedhofsmauer entlang nach Hause.


Katharina Gerlach wurde 1968 geboren und wuchs mit drei jüngeren Brüdern mitten in einem Wald im Herzen der Lüneburger Heide auf. Schon früh verschwand sie tagelang in magischen Abenteuern, vergangenen Zeiten oder unheimlichen Märchenwäldern, denn auch junge Wilde lernen irgendwann Lesen.
Es blieb nicht beim Lesen. Während einer Lehre zur Landschaftsgärtnerin schrieb sie ihren ersten Roman, ein Buch voller Anfängerfehler. Zum Glück gab es auch Bücher darüber, wie man es richtig macht, und so erschienen bald die ersten Kurzgeschichten.
Zurzeit lebt sie mit ihrem Mann, drei Kindern und einem Hund in einem Häuschen nicht weit von Hildesheim und – na, was wohl – schreibt an ihrem nächsten Roman.

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