Sonntag, 7. Juni 2015

Treppensturz von Tine Sprandel

Aus der Serie: Quick, quick, slow – Tanzclub Lietzensee

Klappentext:

Eine Tänzerin der Latein-Formation, Rita Färber, sitzt verstört, mit den Händen vor dem Gesicht, auf der Treppe im Hinterhof des Tanzclub Lietzensee. Vor ihr die Leiche ihres Tanzpartners Frederik Tapis. Was ist geschehen? Während die Polizei den Tatort sichert, versucht Rita Erinnerungsfetzen zusammenzuführen. Sie entdeckt, dass ihr Exfreund Holger Flimms aus ihrer Münchner Heimat eine leidenschaftliche Rolle spielt. Wer trägt die Schuld?
Gedruckt 72 Seiten, ISBN-13: 978-1490531229;bei amazon 

Leseprobe:

Kapitel 6

Rita schob ihre zwei Finger weiter auseinander. Eine rote Jacke beugte sich über die Leiche und trug einige Daten auf ein Klippboard ein. Die Szene wirkte falsch. Unecht. Wenn das Ganze doch nur ein Traum wäre! Rita versuchte aufzuwachen. Ein Traum – klar, es war normal, dass man sich nicht an alle Einzelheiten eines Traumes erinnerte. Das würde alles erklären!
Sie wachte nicht auf, weil sie nicht schlief. Die rote Jacke drehte sich um, ein rundes männliches Gesicht sah sie an.
„Sollen wir das Mädchen nicht doch untersuchen?“, sagte das runde Gesicht.
Die Stimme der Kommissarin antwortete: „Lassen wir ihr noch etwas Zeit.“
Das runde Gesicht sah immer noch sorgenvoll aus. Aber es drehte ihr wieder den Rücken zu.
Sie hatte sich doch darauf eingelassen, mit Frederik als Partner in der Formation zu tanzen. War sie von allen guten Geistern verlassen gewesen? Wo war ihre Menschenkenntnis geblieben? Nur weil sie hier neu war, weil sie seinen Berliner Slang mochte, die direkte Art – ach, was wusste sie schon. Wahrscheinlich war sie nur eitel und ehrgeizig. Nach knapp zwei Wochen im neuen Tanzverein hatte sie, Rita Färber, einen neuen Partner und reale Aussichten auf einen Platz in der A-Formation. Das war’s. Sie war eine blöde Kuh. Eitel. Eitel. Eitel.
Immer noch Mittwoch, der zwölfte Tag in Berlin
Mit dem schwarzen Trägerkleid, einem Cardigan und den braunen Stiefeln mit Absätzen war sie passend genug angezogen, fand Rita. Doch als sie mit Kirsten den Club betrat, verschwand ihre gute Stimmung schnell. Was dachten die Square Dancer über die Fotos? Hatten sie sie gesehen? Würden sie Rita verurteilen, belächeln, bemitleiden. Bemitleiden und Belächeln wäre schlimmer als Verurteilen. Was dachten sie von ihr?
Kirsten hatte sie wahrscheinlich nicht gesehen; sie war ausgeglichen wie immer. Rita mochte ihre ehrliche und leicht naive Art – allerdings drehte sich bei ihr zu viel um Kohle und Kleidung. Sie plapperte gerade davon, während sie sich einen guten Platz suchten, von dem aus sie die Bühne im Blick hatten. Rita hörte nur halb zu.
Der Club war relativ klein, ein einziger Raum, durch viele Säulen unterteilt. Gegenüber vom Eingang lag die Bühne, links davon die Theke. Rechts säumten einige Stehtische die Wand und in der Mitte verteilten sich Tische; von den hinteren Plätzen aus konnte man sicher nicht mehr gut sehen. Alle Möbel wirkten robust und langlebig, schienen schon viele Schrammen und heißen Kneipendunst gesehen zu haben. Alles aus Holz, die Bühne ebenso wie die Wandvertäfelung. Obwohl nicht mehr geraucht wurde, schien an den Wänden noch der Dunst zu hängen. Die Tische waren mit Stars and Stripes dekoriert und fast komplett besetzt. Das Publikum gemischt. Als sie einen freien Stehtisch an einer Säule ergattert hatten, schlenderte einer der Square Dancer, Hinnerk Martens, mit einem Bier in der Hand zu Rita und Kirsten herüber.
„Es dauert, bis es losgeht. Willst du ein Bier?“, fragte er Rita.
„Bier wäre klasse.“
„Typisch Hinnerk, hat nur Augen für die Neulinge. Mir bietest du kein Bier an?“, beschwerte sich Kirsten sofort.
„Du trinkst kein Bier, das weiß ich – aber ich hätte dir schon auch etwas mitgebracht.“
„Vergiss es. Ich hab da hinten ein paar alte Freunde gesehen und bin dann mal drüben. Wir sehen uns später!“ Sie zwinkerte Rita zu und Rita staunte. Egal – sie brauchte jetzt kein dauerndes Reden. Hinnerk streckte ihr sein Bierglas entgegen. Rita nahm es und er legte seinen Zeigefinger an die Lippen. „Nicht weggehen, ich hol mir schnell ein neues.“
Rita lächelte. Hinnerk verstand es, dass man sich in seiner Nähe wohlfühlte.
Akzeptiert, angenommen.
Und plötzlich war da wieder die Leere. Es sollte eigentlich ein anderer hier stehen; einer, bei dem sie sich mehr als wohlfühlte. Sie vermisste das Herz, das hüpfte.
Ihr Herz hüpfte schon lange nicht mehr. Es krampfte sich immer mehr zusammen und quetschte Herzsaft heraus. Es versteinerte. Rita trank ihr Bier in einem Zug aus.
Diese Berliner Kölsch Gläser waren lachhaft klein. „Darf ich?“ Sie trank auch Hinnerks neues Glas in einem Zug aus.
„Das ist jetzt nicht nett“, sagte Hinnerk.
Jetzt fühlte sich alles nicht mehr so trostlos an. Jetzt konnte es losgehen.
„Ich hole uns Nachschub“, versprach Rita.
„Na, dann gehe ich zur Sicherheit mit.“ Im Lokal wurde es immer voller. Sie quetschten sich an der Bühne entlang. Das Ambiente erinnerte Rita mehr an eine Wirtschaft mit Kabarettbühne im Münchner Vorland als an eine Westernkneipe in Berlin.
Sie gelangten zur Bar und Hinnerk schob ihr einen Barhocker hin und setzte sich selbst auf einen. „Ich sitze besser hier, ich bin heute nur Ersatzmann, die Squares sind bis jetzt komplett. Wenn etwas ist, kann ich so sofort einspringen.“
Rita nickte. Sie sah keinen Square Dancer weit und breit. Er wollte also mit ihr reden. Sie trank von ihrem Bier.
„Was spülst du herunter?“, fragte Hinnerk. Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: „Ich ahne es. Du findest die Fotos daneben?“
„Wieso das denn?“ Ritas Stimme klang schrill. „Sie sind doch cool, voll die geniale Werbung“
„Wenn du das so sehen kannst.“ Hinnerk lehnte sich auf seinem Barhocker zurück, als ob er sie besser abschätzen wollte.
„Ist mir doch egal – die Fotos gehen ja nur um die halbe Welt. Und wenn ich mal Tänzerin bin – wird es Tausende solcher Fotos geben.“
„Und es ist dir nicht peinlich? Ich meine, was sagen deine Freunde zu Hause dazu?“
In seinen Augen lag eine Mischung aus Verwunderung und Bewunderung.
Als ob er Rita erforschte.
Sie sagte nichts – sie trank. Sie dachte an Holger. Holger daheim – er sah die Bilder. Er war ja gewiss nicht prüde – das war es nicht –; aber er konnte Bilder lesen – er las in ihrem Gesicht wie kein anderer. Und er würde den Schmerz sehen und die Macht und – dass sie sich nicht gewehrt hatte.
Einmal nach der Trennung hatte er auf sie gewartet in der Stadt und stellte nur eine Frage: „Hast du dich getrennt, weil du das wolltest oder weil deine Eltern das wollten?“
Rita hatte geantwortet: „Natürlich, weil ich das wollte.“ Auch damals klang ihre Stimme etwas zu schrill.
Dann sagte er: „Dann ist es so – dann lass ich dich in Ruhe“. Und er wartete nie wieder nach dem Training auf Rita. Er rief auch nicht an – er antwortete nicht auf ihre SMS und ging nicht ans Telefon. Erst wieder in den fünf Tagen vor ihrer Abreise.
Aber es war nicht ihr Wunsch gewesen – Rita war es nur nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen, die andere missbilligten. Und an dem Abend mit Hinnerk in diesem Club war es genauso. Es ist etwas anderes, zuzustimmen als gar nichts zu sagen. Es ist etwas anderes, Fotos löschen zu lassen als sie hinzunehmen.
Sie trank wieder einen Schluck Bier, anstatt zu antworten. Natürlich hatte sie nicht zugestimmt. Ihr waren die Fotos zuwider.
Sie würde auf einem Berliner Radioball tanzen. In einer Show. Keine Ahnung was, Hans-Dieter würde sie schon noch einweisen – war ja nicht so schwer, in Gänseformation einen Salsa zu tanzen und ein paar Hebewürfe einzubauen. Frederik hatte die Folgen schon mit ihr geübt. Das kam auf solchen Bällen immer gut an.
Nach dem dritten Bier konzentrierte sie sich darauf, nicht zu lallen.
Hinnerk fing schon wieder an: „Du hast zugestimmt?“
Natürlich nicht, natürlich doch. Rita wand sich. Nur nicht zugeben, dass der Kerl sie so ausnützte. Doch sie wollte nicht lügen; es war alles so unendlich peinlich.
Rita knetete ihre Finger, damit ihr etwas Gescheites einfiel.
„Hör mal, ich muss wissen, ob du zugestimmt hast!“
„Du? Was musst du, was weißt du schon, was geht es dich überhaupt an?“
Was für eine Ausfragerei, als ob sie ein Kleinkind wäre! Gleichzeitig schämte sie sich. Hinnerks Tonfall war nicht ungerecht, nicht überheblich. Er erinnerte sie schon wieder an Holger. Etwas länger und etwas blonder. Rita versank in ihren Barhocker.
Eine der Tänzerinnen aus der Square Dance-Gruppe trat auf ihn zu. „Hinnerk, Jens musste kurzfristig weg. Springst du ein?“
„Gleich, gleich.“
„Hinnerk, es geht los, wir treten jetzt auf und du musst dich noch umziehen.“
Es hätte nur noch gefehlt, dass diese Ziege ihn vom Hocker zog.
Und Rita half ihr noch; sie sagte zu Hinnerk: „Du kannst ruhig gehen, ich komm schon klar.“
„Nicht weggehen, wir reden in der Pause weiter.“
„Was soll das bringen?“
„Ich will dir helfen, Rita, glaub mir. Ich will nicht, dass du so endest wie Carmen.“
...

Die Autorin:

Die gelernte Gärtnerin Tine Sprandel arbeitet nach Zwischenstationen am Theater und im Gartenbau  als Autorin, Texterin und Webdesignerin. Sie wohnt mit ihrer Familie  im Münchner Süden. Für die Reihe „Quick, quick, slow – Tanzclub Lietzensee“ schreibt sie gerade an dem zweiten Roman. Außerdem ist sie für die Covergestaltung zuständig.
Mehr zu Tine Sprandel: www.asprandel.de

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