Kurzbeschreibung:
Romantasy
Lovisa ist 17, selbstsicher, sarkastisch und schreibt Geschichten, die ihr in Tagträumen einfach zufliegen.
Doch es nagen Zweifel an ihr, als sie erfährt, dass ihre Tagträume eigentlich Visionen sind – Visionen, die sie zu ihrer leiblichen Mutter in die Psychiatrie führen.
Lovisa fühlt sich zunehmend verfolgt. Wer ist der junge Mann aus ihrer Vision, der ihr das Gefühl eines leidenschaftlichen Kusses auf den Lippen hinterlässt? Ozeanblaue Augen verfolgen sie, ihr Weltbild wird erschüttert, und die Realität ist viel unglaublicher, als sie es sich je erträumt hätte …
Lovisa ist 17, selbstsicher, sarkastisch und schreibt Geschichten, die ihr in Tagträumen einfach zufliegen.
Doch es nagen Zweifel an ihr, als sie erfährt, dass ihre Tagträume eigentlich Visionen sind – Visionen, die sie zu ihrer leiblichen Mutter in die Psychiatrie führen.
Lovisa fühlt sich zunehmend verfolgt. Wer ist der junge Mann aus ihrer Vision, der ihr das Gefühl eines leidenschaftlichen Kusses auf den Lippen hinterlässt? Ozeanblaue Augen verfolgen sie, ihr Weltbild wird erschüttert, und die Realität ist viel unglaublicher, als sie es sich je erträumt hätte …
Ab 14
Jahre
Band 1 von 2 Lovisa-Büchern.
Die Reihe "Das Vermächtnis der Lil`Lu" wird insgesamt 5 Bände umfassen.
Die Reihe "Das Vermächtnis der Lil`Lu" wird insgesamt 5 Bände umfassen.
Erhältlich bei Amazon als Ebook oder Taschenbuch
Leseprobe:
Ein
heller Blitz.
Es entstand aus dem
Nichts und wurde mit den Jahren größer. Ein Jahr – solch kleine Einheit. Was
ist schon ein Jahr in der Ewigkeit der Universen?
Es bestand aus reiner
Energie – körperlos, strahlend, leuchtend existierte Es im Übergang von einem Universum zum nächsten.
Mit
den Jahren entwickelte Es das
Bewusstsein, zu sein.
»Ich
bin hier, also existiere ich.«
Solche
Gedanken beschäftigten Es, während Es an Stärke gewann. Nach weiteren
Jahren erkannte Es, es war nicht
allein. Es gab mehrere von ihnen – männliche und weibliche. Es war ein Er!
Er konnte die Gedanken
der anderen hören! Doch, als er begann, sie zu verstehen, erschrak er so sehr,
dass seine Energie sich als roter Blitz am Rande seines Universums entlud:
Überall herrschte Panik! Seine Art wurde vernichtet!
Er
konnte ihre Schreie hören, kurz bevor sie für immer verstummten. Schreie,
hervorgerufen durch entsetzliche Qualen, Schreie, die von Existenzangst und
Verzweiflung erzählten. Schreie, die er nie vergessen würde …
Und
in seiner Verzweiflung begann er, weiterzuwachsen. Nicht wie zuvor, als er
lediglich erwachsen wurde – nein, er wuchs nun, um stark zu werden. So stark,
dass er sich vielleicht würde wehren können. Vielleicht ... Wehren! Gegen einen
unsichtbaren Gegner, der die Existenz seiner Art bedrohte ... Vernichtete ...
Jagte. Und so wuchs er. Mit all seiner Kraft. Von nur einem Gedanken getrieben:
überleben!
Ulrika
legte den Stift weg. Ein Schauer überlief ihren Körper. Sie starrte auf das
Geschriebene. Hörte die Schreie des Universums. Fühlte die Panik, als wäre es
ihre eigene. Lichter überfluteten ihr Gehirn, tanzten immer schneller.
Verzerrten den Raum um sie herum. Versuchten, sie mit sich fortzuziehen.
»Nein!
Wehre dich! Lass es nicht geschehen!«
Schritte
auf der Auffahrt. Kurze Ruhe. Es klopfte. Ulrikas Herz machte einen Sprung. Sie
versuchte, die Wahrheit zu fassen. In der Realität zu bleiben. Sie fasste sich
an ihren schwangeren Bauch. Fühlte das Leben darin. Hielt sich daran fest. Zog
sich mit aller Kraft zurück in die Realität. Ihr Blick wurde wieder klarer. Sie
sah das Geschriebene vor sich liegen.
Er!
Es
klopfte wieder. Dieses Mal energischer. Härter. Fordernd. Befehlend!
Sie kommen!
Ulrika
ergriff das Blatt Papier, sprang vom Stuhl auf und fiel wenige Schritte weiter
auf die Knie. Alte Dielen. Eine war lose. Ihr Versteck!
Ulrika
presste das Blatt zu den anderen. Hörte, wie die Haustür aufbrach.
Sie lag
auf dem Rücken. Bilder, Lichter zuckten. Hatte
sie es geschafft?
Starke
Arme erfassten sie. Hoben sie hoch. Jemand sprach Worte, die nicht zu ihr
durchdrangen. Ein Mann.
Das Papier! Hatte sie
es geschafft? War es sicher?
Ulrika
wand sich in den Armen des Mannes. Er hielt sie fest, doch sie vergewisserte
sich noch einmal. Nichts deutete darauf hin, dass es eine lose Diele gab. Sie
hatte es getan. Konnte sich nicht erinnern. Doch das Versteck würde ihr
Geheimnis bleiben. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als der Mann sie ins
Freie führte.
Ich stand
bei ICA – einer schwedischen Lebensmittelkette – an einem Süßigkeitenstand und
konnte mich nicht entscheiden. Das Schild sagte eindeutig drei für zehn Kronen,
aber es gab fünf Sorten zur Auswahl.
Da werden einem aber auch schwierige
Entscheidungen abverlangt! Gemein.
Ich
wippte vor und zurück, starrte auf das Sortiment und auf die bereits gewählten
Riegel in meiner Hand.
Mein
Blick verschwamm. Alles um mich herum wurde auf einmal undeutlich. Die Farben
der Verpackungen begannen zu verwischen, lustige Muster bildeten sich, der Raum
vor mir fing an, sich unnatürlich zu dehnen. Es kribbelte in meinen Händen. Die
Muster verwandelten sich in beängstigende Gebilde. Ich zog scharf die Luft ein,
blinzelte erschrocken die verzerrten Bilder fort und starrte ins Leere.
Was war denn das?
Geträumt? Oder ...
Ein
elektrisierender Impuls eilte durch meinen Körper, so einer, den man siedend
heiß spürt, wenn es einen eiskalt erwischt. Hm, siedend heiß und eiskalt.
Nettes Wortspiel. Ich grinste, schaute mich verlegen um – niemand sah mich an –
und widmete mich dann wieder der Auswahl an süßen Leckereien. Ich zitterte
leicht. Ich schob das Gefühl von Unzulänglichkeit, das sich auf einmal
breitgemacht hatte, energisch zur Seite.
Es war nur ein Tagtraum, schimpfte ich mich
und griff aufs Geratewohl nach noch einem Schokoriegel. Entschlossen drehte ich
mich zu den Kassen und suchte mir die am wenigsten bevölkerte aus. Das leichte
Kribbeln blieb in meinen Händen. Ich quetschte die Riegel, sodass ich es
knirschen hörte und seufzte.
Na toll. Jetzt ist der Keks im Riegel zerbröselt.
Den
Riegel kann man sowieso kaum essen, ohne zum Krümelmonster zu werden. Der
Anflug von Ärger vertrieb zum Glück die unwillkommenen Gedanken, die mich seit
diesem überraschenden Farbspielerlebnis irritierten. Wenigstens etwas!
Erleichtert
schaute ich mich um.
Ich
war in einem typischen ICA Maxi-Laden mit einer unglaublichen Artikelvielfalt,
Pfannen, Klamotten, Gartenzubehör – zum Glück verkauften die auch immer noch
Lebensmittel. Wobei es mich wunderte, dass dort für so einfache Dinge wie Brot
auch noch Platz war. Um ehrlich zu sein, ging ich lieber bei City Gross
einkaufen, dort war es geräumiger, und übersichtlicher war es auch.
Bei
ICA Maxi brauchte man Kondition. Ich war nicht die Einzige, die Probleme hatte,
dort auf Anhieb etwas zu finden. Ob das Taktik war? Je mehr der Kunde rumläuft,
desto hungriger wird er? Wie zur Bestätigung knurrte mein Magen.
Ich
blickte auf meine Beute. Was hatte ich eigentlich als Letztes gegriffen? Oh,
wunderbar ... Ein Geisha, gerade den
mochte ich aus der Fünferauswahl am wenigsten. Ich wollte losgehen, um den
Riegel auszutauschen, als ich mitten in der Bewegung anhielt. Hinter mir
ringelte sich die Warteschlange bis weit in eine Regalreihe. An den anderen
Kassen das gleiche Bild. Ich seufzte – diesmal laut hörbar – und fügte mich dem
Schicksal. Also gut, dann eben ein Geisha.
Ich würde es überleben.
Langsam
rückte die Schlange vorwärts. Als ich unter ein Reklameschild trat, tropfte mir
irgendetwas auf den Kopf. Ich strich mir hastig über die Haare und schaute nach
oben. Da war nichts. Zumindest nichts Sichtbares. Meine Finger tasteten meine
Locken ab. Aber ich konnte nichts Nasses ausmachen. Ich schaute nochmal nach
oben – dann trat ich vorsichtshalber etwas zur Seite. Wer weiß, dachte ich,
sicher ist sicher.
Diese
Bilder ... Der verzerrte Raum …
Ich
atmete tief durch und fixierte den Zeitschriftenständer, der direkt vor der
Kasse auf die Kunden wartete. Prinzessin Madeleine lachte mir von einer
Titelseite entgegen. »Alles rund um Madeleines großes Babyglück«, war die
Schlagzeile. Hinter ihr lachte Kronprinzessin Victoria in die Kamera. Sie war
offenbar auf dem Weg zu einer Hochzeit. Es war seltsam, sie auf einem Foto ohne
Prinzessin Estelle im Arm zu sehen. Nun ja, jetzt war wohl Madeleine dran. Hier
wurde man vom Königshaus verfolgt, wohin man auch sah.
Ich
konzentrierte mich auf die Überschriften. Las sie noch einmal und stellte
verärgert fest, dass ich immer noch nicht wusste, was dort stand. Mein
Unterbewusstsein drängelte sich faszinierend penetrant in den Vordergrund:
verzerrte Bilder, ein Raum, der sich dehnte …
Ich
quetschte wieder meinen Riegel und las zum dritten Mal: »Nachdem Madde ihre
Schwangerschaft bekannt gab: Carl-Philip und Sofia in freudiger Erwartung?«
Nicht zu fassen! Nur, weil die Schwestern jetzt anfingen, sich zu
reproduzieren, musste er es auch? Hatten die nichts anderes zu berichten?
Mein
Blick huschte weiter: »Mitten im Babyboom. Der König will die Krone an Victoria
abgeben.«
Ich
stutzte, dann grinste ich breit. Ich brauchte nicht einmal den Artikel
aufzuschlagen, um zu wissen, dass das garantiert nur ein Köder für die Leser
war. Als junge Mutter hatte Victoria sicher anderes zu tun, als gerade jetzt
das Amt zu übernehmen! Immerhin repräsentierte die Kronprinzessin auch jetzt
schon unser Land. Jeder wusste, dass sie einmal Königin werden würde. Wozu also
die Eile?
Ich
musterte die Abkömmlinge von Königin Silvia kritisch: attraktive
Repräsentanten. Vor allem Madeleine. Obwohl ich fand, dass mir die Gesichter
der Königsfamilie viel zu häufig entgegenlächelten, gehörte ich doch zu jenen
Bürgern, die das Königshaus als eine Bereicherung ansahen und nicht als ein
Relikt vergangener Zeiten.
Ich
hatte keine Ahnung, wie viel die Unterhaltung des Königshauses tatsächlich
kostete. Aber andere Staatsrepräsentanten kosteten ebenfalls. So ein Königshaus
brachte zumindest auch touristisch gesehen Geld ins Land. Ich fand, das sollte
man nicht vergessen. Gegenüber gewählten Staatspräsidenten hatten sie auch den
großen Vorteil, lange da zu sein.
Frage
jemanden in der Welt, wer Schweden oder Norwegen nach außen hin vertritt, und
sie werden sicher nicht Carl Bildt sagen oder Börge Brende. Die kannte doch
kein Mensch! Victoria, Madeleine oder Håkon mit Mette-Marit – Fotos von ihnen
fand man auch auf Titelblättern in anderen Ländern. Man kannte sie eben. Mal
ehrlich: So eine Victoria war doch wesentlich hübscher anzusehen als
beispielsweise ein Herr … Ja, wer war denn eigentlich Deutschlands
Repräsentant? Ich runzelte die Stirn und überlegte intensiv. Der Einzige, der
mir einfiel, war Weizsäcker, und das war wohl ewig her …
Mitten
in meiner Feststellung, gerade bewiesen zu haben, dass meine Theorie von
Königshäusern als Bereicherung eines Landes stimmte, bohrte sich mein Name in
mein Ohr.
»Isa!
Lovisa!«, rief jemand so laut, dass sich die lange Warteschlange komplett
umdrehte, um der Quelle des Rufs empört, aber auch neugierig auf den Grund zu
gehen – Menschen können laut einer anderen Theorie von mir gar nicht nicht neugierig sein.
»Isa!«
Meine
Freundin Amanda drängelte sich von rechts durch die Nachbarschlange und erntete
verärgerte, aber weitaus mehr bewundernde Blicke. Sie gehörte zu den gut
aussehenden Mädchen dieser Welt: lange blonde Haare, groß, schlank – und zwar modellschlank,
also fast ohne Busen und mit Hosengröße 34 – und mit den funkelblausten Augen,
die ich jemals gesehen hatte.
Offenbar
fiel dies auch einem in zerrissener Jogginghose gekleideten Mann mit fettigen
Haaren auf.
»Hey,
Blauäuglein! Engel … vom Himmel gefallen?«
Gerade
dieser abgegriffene Spruch! Ich grinste breit.
Amanda
senkte für eine Sekunde die Lider mit den langen geschwungenen Wimpern, dann
warf sie dem Kerl einen vernichtenden Blick zu. Worte waren da nicht nötig. Ich
wunderte mich, dass der Typ nicht auf der Stelle in Flammen aufging, anstatt
nur rot anzulaufen und blöd zu grinsen. Allerdings erstaunte mich noch mehr,
dass Amanda ihn nicht verbal zur Schnecke machte.
Ich
ließ meinen Blick instinktiv zwischen all den Kunden hin- und herschweifen,
dann kam der Grund ihrer Zurückhaltung auch schon auf uns zugeschlendert:
Filip, Amandas neuer Freund, im Kielwasser die restliche Clique. Noch mehr
verärgerte Blicke – nur Amanda wurde weiterhin wohlwollend angestarrt –, als
sich die Gruppe Jugendlicher zu mir in die Schlange quetschte. Emilie, sensibel
und herzensgut, sah sich etwas gequält um. Ich nahm es gelassen und übersah die
Entrüstung absichtlich.
Simon
lachte mir entgegen, ein süßer Junge mit haselnussbraunen Augen.
»Ein
Geisha? Den magst du doch gar nicht«,
begrüßte er mich. Ich blickte auf den Riegel und runzelte die Stirn.
»Oh,
könntest du vielleicht …« Weiter kam ich nicht.
»Na
klar!« Simon entriss mir den Riegel förmlich und entschwand im Gedränge.
Amanda
lachte. »Er wird nicht lockerlassen, das weißt du doch, Isa? Schnapp ihn dir,
bevor es jemand anderes tut!«
Sie
wandte sich an Filip, ohne meine Antwort abzuwarten, und zog ihn verführerisch
an sich. Ich beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie Filip sich gehorsam zu
ihr herunterbeugte und sie auf den Mund küsste. Dann verschwand seine Zunge in
ihrem Rachen.
»Pass
auf, dass sie die nicht verschluckt«, brummte ich sarkastisch.
Josefin
kicherte, Emilie verdrehte die Augen. Victor schnappte sich Josefin und schob
ihr ebenfalls die Zunge in den Hals, woraufhin sie ihn empört von sich stieß.
»Etwas
sanfter, wenn ich bitten darf!«
Josefin
wischte sich demonstrativ den nicht vorhandenen Sabber von den Lippen. Victor
schaute höchst zufrieden mit sich selbst und der Welt. Sein Kumpel Marcus
lachte über Emilies eindeutig genervtes Gesicht.
Amanda
gluckste fröhlich und schob Filip zur Seite. Die Vorstellung war beendet.
»Du
bist dran.«
Amanda
zeigte auf die Kasse. Ich sah mich nach Simon um. Konnte er sich etwa auch
nicht entscheiden? Hoffentlich brachte er einen neuen Kex, der andere war mittlerweile in seine Bestandteile zerfallen.
Ich wollte gerade zahlen, da reichte mir Simon tatsächlich einen Kex über die Schulter. Er kannte mich
gut.
»Hier«,
sagte er sanft an mein Ohr. Sein Atem berührte meine Nackenhaare. Vertraulich.
Durchaus berechnend. Leider tat sich bei mir gar nichts. Eigentlich war es mir
unangenehm. Ich kannte Simon seit dem Kindergarten. Er war schon immer mein
bester Freund oder war es zumindest so lange gewesen, bis er sich entschied,
unsere Freundschaft für Verliebtheit aufs Spiel zu setzen.
Wut
stieg in mir auf, aber ich riss mich zusammen, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Vielen
Dank, Simon.«
Dann
zahlte ich hastig, um einen guten Grund zu haben, seinem warmen Atem zu
entkommen. Es war nicht fair. Simon hatte sich verliebt. Aber ich … Ich wusste
auch nicht. Er war süß, nett, liebenswürdig und kannte mich gut – besser als
Amanda. Trotzdem würde er für mich immer nur ein Freund bleiben – und er war
außerdem der Exfreund von Amanda. Ich war keine zweite Wahl! Ich wollte nichts,
was Amanda abgelegt hatte, nicht einmal Simon.
Amanda
hakte sich bei mir ein und überließ Filip das Zahlen.
»Wir
gehen zu Roddy‘s. Kommst du mit auf
einen Kaffee?«
Ich
dachte an den Aufsatz, der bis Montag fertig sein sollte, an den Abwasch –
meine Mutter arbeitete heute spät, also war ich damit dran – und an das leere
Haus. Kaffee bei Roddy‘s. Warum
eigentlich nicht?
Amanda
schien die Antwort Ja vorauszusetzen.
Schon dirigierte sie meinen Arm geschickt Richtung Ljungby Zentrum. Ich wehrte
mich nicht. Ganz im Gegenteil. Als Simon sich im Laufschritt näherte, setzte
ich ein fröhliches Lächeln auf, klemmte Amandas Arm etwas fester und schritt
scheinbar unbeschwert vor das nächstbeste Auto. Reifen quietschen.
Amanda
schrie: »Hey, du Idiot! Hier ist ein Zebrastreifen!«
Dann
ließ sie sich lachend von mir weiterziehen. Solche Aktionen waren ganz nach
ihrem Geschmack.
Die
Konditorei und Bäckerei Roddy‘s lag
nur zwei Straßen weiter. Der Duft von Gebäck schlug mir bereits vor der Tür
entgegen. Zwei große rote Herzreklamen empfingen uns am Eingang. Als die Gruppe
endlich zu uns aufgeschlossen hatte, hechte Simon an mir vorbei, um mir die Tür
aufzuhalten. Amanda stieß mir vielsagend in die Seite, ich verdrehte die Augen.
Wenig
später fläzte Filip sich in die bequem gepolsterte Bank im hinteren Teil des
Cafés. Er zog Amanda in die Arme. Fast besitzergreifend.
Ich
setzte mich absichtlich auf einen der Stühle und tat so, als würde ich Simons
einladenden Blick nicht sehen. Er hatte hoffnungsvoll neben Filip auf der Bank
Platz genommen, und schaute nun leicht enttäuscht. Emilie warf mir einen
verstehenden Blick zu. Filip und Amanda verknoteten die Hände und küssten sich
ausgiebig. Simon sah mich sehnsüchtig an. Wir anderen genossen Kaffee und
Kuchen.
Ich
ließ zwei Stückchen Zucker in die schwarze Brühe fallen und goss mir Milch bis
zum Rand. Auf meinem Teller lag ein Schokoball mit Kokosstreuseln bereit. Diese
Chokladbollar liebte ich abgöttisch.
»Hast
du weitergeschrieben?«, fragte Simon.
Er
nippte an seinem Cappuccino und sah mich auffordernd an. Alle Augen – bis auf
Amandas – richteten sich auf mich. Sogar Filip linste durch den Haarschleier
seiner Angebeteten. Ich verschluckte mich am Kaffee und verbrannte mir die
Zunge. Verflucht! Sie deuteten mein verzerrtes Gesicht als Verneinung. Um das
zu unterstreichen, schüttelte ich auch noch den Kopf. Immerhin hatte ich tatsächlich
nicht weitergeschrieben.
»Schade«,
stieß Emilie ehrlich hervor. »Ich hoffe, dir fällt bald die Fortsetzung ein. Es
ist wirklich frustrierend, wenn man das Buch nicht einfach kaufen kann!«
»Das
ist fast wie bei diesen Fernsehserien«, stimmte Josefin zu und zog eine
Grimasse, um ihren Worten Gewicht zu verleihen. »An der spannendsten Stelle
hören sie auf. Fortsetzung folgt. In einer Woche!«
»Dir
fällt bestimmt bald etwas ein«, tröstete Simon mich.
Überflüssigerweise.
Denn mir war ja schon längst etwas eingefallen. Wobei – um genau zu sein, war
das nicht ganz zutreffend: Mir fiel
eigentlich nie etwas ein. Das Ganze war um einiges einfacher – zumindest für
mich.
Ich
schrieb in meiner Freizeit Geschichten. Ich war sogar fast so etwas wie berühmt an meiner Schule, für meinen
außergewöhnlich guten Schreibstil und meine packende Erzählweise. Im Zeitalter
von Computer und Film durchaus erwähnenswert. Doch, was niemand wusste, war,
dass ich mir die Geschichten gar nicht ausdachte, sondern dass sie mir in Träumen
und Tagträumen förmlich erschienen.
Bis
vor Kurzem hatte ich gedacht, dass das jedem so ginge. Träume, die zum Greifen
echt wirkten, waren für mich normal, seit ich denken konnte. Vor einigen Wochen
war mir allerdings durch Zufall bewusst geworden, dass meine Art, Ereignisse zu
sehen, wohl doch nicht gang und gäbe war. Ganz im Gegenteil. Offenbar würden
die meisten meine Erfahrungen eher als Visionen bezeichnen. Zumindest hatte
Amanda es so ausgedrückt.
»Das
sind Visionen, Isa«, hatte sie mit
einem Anflug von Distanz in der Stimme gesagt. »Das würde ich an deiner Stelle
für mich behalten. Nicht jeder ist da so tolerant wie ich. Manche könnten dich
für … verrückt halten!«
Klar,
dass sie mir riet, so etwas geheim zu halten. Alles, was von ihrer entzückenden Person ablenkte,
verabscheute Amanda aus tiefstem Herzen. Dass meine Geschichten sogar bei den
Jungs gut ankamen, das war ihr ein Dorn im Auge. Ich wusste das, trotzdem war
Amanda meine beste Freundin. Und sie gab sich auch Mühe, ihre Eifersucht nicht
zu zeigen. Ich kannte sie allerdings zu gut. Viel besser als sie mich.
Ich
behielt meine Entdeckung, Visionen zu haben, also für mich. Nicht Amanda
zuliebe. Nein, sie hatte erreicht, was sie unterbewusst bezweckt hatte: mir
Angst zu machen! Allerdings nicht so, wie sie es gemeint hatte. Nicht die Angst
davor, was andere über mich denken könnten. Nein, es ging um ein einziges Wort:
verrückt. Ihre Anspielung nagte an meinem Inneren wie ein gefräßiges Geschwür. Verrückt. Irre.
Amanda
hatte ja gar keine Vorstellung, wie sehr mich diese Worte trafen! Seit unserem
Gespräch über Tagträume und Visionen hatte sich eine Unsicherheit in meiner
Brust eingenistet, die offenbar vorhatte, dort permanent zu siedeln. Sehr
beunruhigend.
Ich
schluckte und befühlte meine verbrannte Zunge. Mein Appetit auf Schokobälle war
wie weggeblasen. Mir war leicht übel.
»Ich
weiß schon, wie es weitergeht«, sagte ich tapfer.
Amanda
warf mir einen kritischen Blick zu.
»Ich
habe das nächste Kapitel nur noch nicht geschrieben.«
Amanda
schien erleichtert. Ich benahm mich normal, zumindest aus ihrer Sicht.
»Na,
dann müssen wir wohl noch ein wenig auf die Fortsetzung warten«, sagte sie
schulterzuckend und widmete sich endlich ihrem Kaffee und ihrem riesigen Stück
Torte. Für sie war das Thema damit erledigt.
Die
weitere Unterhaltung floss ungezwungen dahin: Sport, der Aufsatz für Montag und
die Erörterung der Frage, bei wem wir uns am Wochenende zum typisch
schwedischen Vorfest treffen könnten.
Das
Vorfest war genau wie das Nachfest ein fester Bestandteil unserer Partykultur.
Wir trafen uns bei irgendwem zu Hause und tankten schon einmal mächtig vor. In
den Pubs war Alkohol extrem teuer, außerdem waren wir mit unseren siebzehn
Jahren noch zu jung, um harte Sachen zu bekommen. Nun gut, Filip und Victor waren
achtzehn, Marcus sogar neunzehn Jahre alt. Nach dem Vorfest ging‘s zum
eigentlichen Ereignis des Abends: Kino, Disco, Konzert oder Ähnliches, je
nachdem, was zufällig in Ljungby und Umgebung angeboten wurde. Da so gut wie
alle Veranstaltungen gegen zwei Uhr nachts endeten, gab es für die Nimmersatten
und Hartgesottenen das Nachfest, auf dem das Saufgelage vom Vorfest fortgeführt
wurde. Das Ganze nannte sich dann schwedische
Trinkkultur.
Als
die Diskussion zu nichts führte, da weder Freitag noch Samstag bei einem von
uns sturmfrei war, löste Filip unsere Kaffeerunde mit den Worten auf: »Ich hör
mich mal um. Bei irgendwem wird immer gefeiert. Ich muss jetzt los, mein Bus
geht in zehn Minuten.«
Wo
er recht hatte, hatte er recht. Man konnte immer irgendwo zu einem Vorfest
reinschneien. Mir war es allerdings lieber, ich kannte die Gastgeber, und zwar
nicht nur vom Sehen.
Amanda
und Filip schälten sich aus den schokobraunen Polstern.
»Bis
morgen dann!« Filip hob zum Gruß die Hand, Amanda beugte sich zu meinem unangerührten
Schokoball vor.
»Willst
du den nicht mehr?«
Ich
konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Typisch Amanda. Sie konnte ohne
Probleme drei Stückchen Torte vertilgen und dann immer noch einen Riegel
Schokolade hinterherschieben. Mir war immer noch leicht übel. Außerdem schien
meine Zungenspitze nicht genügend Platz in meinem Mund zu haben.
»Nimm
ruhig«, sagte ich.
Sie
drückte mir einen Kuss auf die Wange, schnappte sich den Schokoball und
verschwand Richtung Tür.
»Bis
morgen!«, rief sie kauend über die Schulter und ließ sich von Filip in den Arm
nehmen. Ich sah ihr nach. Wie war es nur möglich, dass jemand so viel Müll in
sich hineinfutterte und trotzdem aussah wie eine Bohnenstange? Ich aß nicht
einmal die Hälfte von dem, was Amanda täglich vertilgte. Trotzdem war ich im
Vergleich zu ihr dick. Ich war natürlich nicht wirklich dick. Ich war nur der
kurvige Typ mit Hüfte, nicht der knochige, schwindsüchtige. Im Vergleich zu
Amanda waren sogar »Victoria Secret«-Models dick. Immerhin hatte Gisele Bündchen
wenigstens Brüste.
»Weißt
du, du kannst das auch haben«, deutete Simon meinen nachdenklichen Blick total
falsch.
»Hä?«
Ich
riss mich mit einem Ruck aus meinen nicht gerade freundschaftlichen Gedanken
und nahm mir zum x-ten Mal vor, weniger sarkastisch, ironisch und was weiß ich
noch alles zu sein.
»Na,
diese glückliche Zweisamkeit«, raunte Simon und legte mir vieldeutig einen Arm
um die Taille. Mist. Gefangen. Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst, und nun
konnte ich mich nicht einfach losreißen, ohne seine Gefühle zu verletzen. Ich
wappnete mich und schenkte ihm ein Lächeln.
»Wieso?«,
hörte ich mich dann allerdings sagen. »Willst du wieder mit Amanda zusammen
sein, um mir und Filip freie Bahn zu verschaffen?«
Als
Simons Gesichtszüge entgleisten, biss ich mir auf meine malträtierte Zunge.
Mein Vorsatz hatte ja lange gehalten …
Du kannst das besser!, schimpfte ich mich
selbst. Ich lachte Simon also an und stieß ihm in die Seite.
»Lass
das mal schön sein, ich kann darauf verzichten, seine Zunge im Hals zu haben.
Ich stehe mehr auf sanfte Küsse!«, korrigierte ich meine vorherige gemeine
Attacke.
Simon
strahlte mich glücklich an. Ich seufzte innerlich. Wo sollte das nur hinführen?
Und wann ließ er endlich meine Taille los?
»Hier,
deine Jacke, Isa«, grinste Marcus mich an. Die anderen hatten das Geplänkel
natürlich mitbekommen. Oh, ein Rettungsring!
»Danke!«,
sagte ich etwas zu herzlich, schnappte mir meine Jacke und wand mich nun mit
gutem Grund aus Simons Armen: Ich musste mir die Jacke anziehen. Was für ein
Glück, dass die T-Shirt-Zeit vorbei war!
Vor
dem Café blies uns ein kühler Wind entgegen. Es war richtig frisch geworden.
Der Herbst färbte die Blätter bunt und brachte feuchte Luft mit sich. Ich zog
meine Jacke enger, verabschiedete mich und begann bereits zu gehen.
»Warte,
Isa«, rief Simon.
Ich
ging weiter.
»Soll
ich dich begleiten?«
»Ein
anderes Mal, Simon. Ich muss mich beeilen«, log ich und winkte ihm fröhlich zu,
während ich auf dem Absatz kehrtmachte und über den Marktplatz lief. Ich
verlangsamte das Tempo erst, als ich bei der Bank um die Ecke bog. Ich sah mich
um. Er war mir nicht gefolgt. Mit schlechtem Gewissen ging ich die Straße
hinauf. Mein Ziel: Café Storgatan 13.
Egal,
wie viel Sorge mir meine Visionen
bereiteten, ich musste die Bilder in meinem Kopf sortieren und zu Papier
bringen. Im Café 13 – wie es kurz
genannt wurde – würde mich keiner stören.
Es
war nicht weit, nur ein paar Hundert Meter. Ich versuchte, nicht an Simon zu
denken, versuchte, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, und atmete die kühle
Luft tief in meine Lungen. Plötzlich durchlief mich ein Schauer.
Irgendjemand beobachtet
mich!
Ich
fuhr herum und suchte die Straße ab. Es war niemand zu sehen. Hatte ich mich
getäuscht? Wie kam ich überhaupt auf die Idee, beobachtet zu werden?
»Das
ist bestimmt dein schlechtes Gewissen«, murmelte ich für mich selbst. Ich ging
weiter, doch das beunruhigende Gefühl blieb, saugte in meiner Magengegend und
veranlasste mich dazu, mich noch mehrmals unsicher umzusehen, bevor ich endlich
das Café 13 erreichte.
Wohlige
Wärme empfing mich. Das Café war nicht so modern eingerichtet wie Roddy‘s, dafür war die Bedienung
freundlich, und wesentlich billiger war es hier auch. Ich hatte keine Ahnung,
warum gerade das Roddy‘s zum
Treffpunkt aller Jugendlichen geworden war. Es war dort fast immer voll und
wirklich teuer! Obwohl gerade Jugendliche bekanntlich nicht viel Geld übrig
haben, traf man sich immer dort. Mir persönlich war das Café 13 lieber. Es ging ruhiger zu, war persönlicher. Ich kam oft
hierher, um zu schreiben.
»Gibst
du mir einen warmen Kakao?«
Die
Bedienung lächelte und begrüßte mich. Hier kannte man mich. Ich ließ meinen
Blick über das Sortiment gleiten. Mein Magen meldete sich mit einem hungrigen
Knurren zurück.
»Und
eine gebackene Kartoffel mit Thunfischsalat«, entschied ich spontan. Mein
Appetit war eindeutig zurückgekehrt, und auf leeren Magen schrieb es sich nicht
sonderlich gut.
»Ich
bring es dir gleich. Setz dich ruhig. Schreibst du an deinem Buch weiter?«
Ich
wiegte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Buch
ist wohl etwas übertrieben«, relativierte ich ihre Erwartungen. »Es ist eine
Erzählung, vielleicht eine Novelle … Hm …«
Sie
lächelte.
»Ich
lese deine Geschichten immer gern«, sagte sie freundlich und verschwand in der
Küche.
Ich
kramte eine Haarspange hervor, sammelte meine Locken und klemmte sie am
Hinterkopf fest. Dann suchte ich mir ein Plätzchen am Fenster. Ich schaute gern
hinaus, während meine Gedanken wanderten und aus Bildern eine Geschichte
formten. Die aktuelle handelte von einer jungen Frau, die sich in den falschen
Mann verliebt hatte. Sie war von ihm schwanger. Ein Dorn im Auge ihrer Familie
– ein Skandal musste verhindert werden. Die Frau war einem mächtigen Mann
versprochen, die Ehe schon seit ihrer Geburt geplant.
Ich
nannte die Frau Svea. Meine Visionen lieferten Bilder, Gefühle, manchmal sogar
Gerüche, doch Namen musste ich mir selbst ausdenken. Außerdem erschienen mir
Gesichter nur schemenhaft verschwommen. Ich konnte sie nie wirklich sehen,
beschrieb sie in meinen Geschichten also nur so, wie ich sie mir vorstellte.
Svea
wurde entführt – ziemlich brutal. Dieser Teil gefiel den Jungs in der Schule
ausgesprochen gut. Zuerst waren sie skeptisch – eine romantische Geschichte?
Immerhin waren sie von mir Kurzgeschichten zum Thema Horror, Thriller und
Science-Fiction gewohnt. Nun, sie würden nicht enttäuscht werden, denn meine
neueste Vision gab der Romanzenstory eine ungeahnte Wendung.
Svea schwebte zwischen Ohnmacht und
Bewusstsein. Sie spürte die kalte Liege unter ihrem Rücken. Ihre Arme und Beine
waren mit Riemen festgebunden, sie war so gut wie nackt. Ihre Hose war ihr vom
Leib gerissen worden, ihre Bluse hing in Fetzen um ihre Brüste. Sie zitterte am
ganzen Körper – vor Kälte, vor Angst und vor Schmerzen. Ihr Arm war gebrochen.
Es war passiert, als sie sich wie eine Raubkatze zur Wehr gesetzt hatte –
vergebens. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Die Fesseln hielten den
geschundenen Arm in einer unvorteilhaften Stellung.
Ein Wimmern kam über
ihre Lippen. Dann ein Stöhnen. Svea versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen,
der Situation Herr zu werden.
Was machte sie hier?
Was wollte dieser Kerl von ihr? Es war so still … War sie allein? Svea drehte
vorsichtig den Kopf. Ein dumpfes Hämmern an der rechten Schläfe erinnerte sie
an den Schlag, der sie in die Ohnmacht geschickt hatte. Sie blinzelte tapfer in
die Dunkelheit. Ihre tränenden Augen erfassten eine Gestalt – sie war nicht
allein!
Plötzlich erstrahlte
der Raum in einem grellen Licht. Die Gestalt nahm Form an. Es war ein Mann. Er
trug einen weißen Kittel und wusch sich gerade die Hände. Dann kam er auf Svea
zu – das Gesicht hinter einem Mundschutz verborgen, die Augen blitzen sie hart
an. Erbarmungslos.
»Wir dulden solche
Frevel nicht!«, zischte er unbarmherzig. »Dieser Bastard wird sterben – und Ihr
…«, er verzog das Gesicht, sodass Svea trotz Maske sah, dass er hämisch
grinste.
»… Eure Hoheit«, sagte
er sarkastisch. »Ihr werdet Eure Pflicht erfüllen! Nichts wird unserem Plan in
die Quere kommen. Schon gar nicht solch ein dreckiger Nichtsnutz von einem
Mann! Sein Samen hat Euch vergiftet. Ich werde den Dorn in Eurem Leib
herausreißen und zermalmen, genau, wie ich das Leben dieses Nichtsnutzes
zwischen meinen Fingern zerquetscht habe! Wollt Ihr ihn sehen?«
Ein irrer, fast fanatischer
Ausdruck loderte in den Augen des Mannes auf.
Sveas Magen knotete
sich zusammen. Tomas! Er war hier? Und was meinte der Kerl mit ‚das Leben
zerquetschen‘?
Der Mann umrundete ihre
Liege und war mit zwei Schritten bei einem Vorhang angekommen, den er in einer
herrischen Bewegung zur Seite zerrte. Seine Augen beobachteten Svea lüstern,
als sie zu verstehen versuchte – als ihr Blick endlich das Grauen erfasste!
In einer Lache aus Blut
lag ein Körper, der bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Fleisch und Haut
hingen in Fetzen von den Knochen, nur das Gesicht war unberührt: Leere Augen
blickten ihr im Entsetzen erstarrt entgegen – Tomas!
Der Schrei blieb ihr in
der Kehle stecken. Sie bekam keine Luft, ihr ganzer Körper verkrampfte sich,
sodass ihr gebrochener Arm brutal gedehnt wurde. Sveas Augen verdrehten sich in
den Höhlen.
Die Stimme des Mannes
drang durch das Grauen zu ihr hindurch: »Keine Angst, Prinzessin. Ihr werdet
leben. Doch zuerst muss ich die Saat entfernen, die Euch besudelt hat …«
Es pochte in Sveas
Schläfen, in ihrem Kopf, in ihrem ganzen Körper. Ihre Sinne drohten unter der
Flut von Reizen zu ersticken – Tomas tot! Zerfetzt! Das Fleisch von den Knochen
gerissen! Ihr Kind, ihr gemeinsames Kind … Sie musste es schützen! Um jeden
Preis!
Dieser Gedanke krallte
sich in ihr fest, grub sich mit scharfen Krallen in ihr Gehirn, schien ihre
Gehirnmasse zu zerfressen, genau so, wie ihr Geliebter in Fetzen lag. Sveas
Augen schnellten zurück, starrten in den Raum hinein, starrten durch den
grotesk grinsenden Mann – war er ein Arzt? – hindurch, der mit seinem
Chirurgenbesteck hantierte. Ihr Blick weitete sich, der Raum begann, sich zu
dehnen, Farben wirbelten umher, jedes Detail, jedes Molekül rauschte in
rasender Geschwindigkeit auf sie zu, ein greller Blitz betäubte ihr
überlastetes Gehirn. Ein Luftzug – dann wurde es dunkel um sie herum.
Als Svea erwachte, lag
sie einsam in einem Waldstück. Der Boden unter ihr war weich und feucht. Ein
leichter Wind spielte mit ihren verklebten Haaren, eine Gänsehaut überzog ihren
halb nackten Körper. Svea hatte keine Ahnung, wo sie war. Doch eines wusste sie
mit seltsamer Gewissheit: Ihr Kind lebte! Tomas würde in dem Baby weiterleben …
Ich
starrte auf den Text. Meine Hände zitterten. Der Raum weitete sich, Farben wirbelten
umher …
Es
war nur ein Tagtraum gewesen, den ich nun niedergeschrieben hatte, eine Vision,
ein Detail aus einer Geschichte. Mehr nicht. Aber es hatte sich so echt
angefühlt. Ich kannte es nicht anders, als dass sich meine Visionen echt
anfühlten. Ich war es genau so gewohnt. Trotzdem hatte mich diese Erfahrung
erschüttert, als ob ich eine neue Ebene von Tagträumen betreten hätte. Eine
noch realistischere Ebene.
»Hier,
dein Kakao und deine Backkartoffel, Isa.«
Ich
zuckte zusammen und starrte die Bedienung entgeistert an.
»Oh,
entschuldige«, lachte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Ich
rieb mir die Augen und winkte ab.
»Kein
Problem. Ich war nur so in Gedanken«, murmelte ich und schob meinen
Schreibblock zur Seite.
Die
Frau stellte das Essen vor mir ab. »Wenn du noch Salat willst, weißt du ja, wo
du den findest.«
Ich
nickte. Sie verschwand hinter dem Tresen. Während ich in meiner Folienkartoffel
herumstocherte, schaute ich mir das Geschriebene noch einmal an.
Gar
nicht so übel, dachte ich. Wenn man es objektiv betrachtete – sofern ich als
Autorin meinen Text objektiv betrachten konnte – dann war das wirklich gut
gelungen. Den Jungs wird es wohl
gefallen. Svea schien sich aus der Situation herausgebeamt zu haben, sie
lebte und ihr Kind offenbar auch. Das war gut. Nur wusste sie noch nicht, wo
sie sich befand.
Ich
wusste das im Übrigen auch nicht. Hier hatte meine letzte Vision geendet. Ich
war ebenso gespannt, wie es weitergehen würde, wie meine Klassenkameraden es
jedes Mal waren. Ich wusste nie, wann ich den nächsten Tagtraum, die nächste
Vision oder was auch immer haben würde. Nur, dass es kommen würde, das war
sicher.
Ich
widmete mich ernsthaft meiner Kartoffel mit dem Thunfischmayosalat. Nach dem
Essen hing ich noch eine ganze Weile meinen Gedanken nach. Ich bestellte mir
noch einen zweiten Kakao und naschte dazu den zerbröselten Kex. Ich schaute aus dem Fenster, sah die Menschen vorbeieilen oder
spazieren, ruhte meine Augen und mein Gehirn aus. Geistesabwesend beobachtete
ich einen jungen Mann, der vom gegenüberliegenden Park zum Café herübersah. Er
war zu weit weg, als dass ich ihn hätte beschreiben können. Gerade, als mich
das gruselige Gefühl packte, dass er genau mich durch das Fenster anstarrte,
schlenderte er davon. Ich runzelte die Stirn, dachte an den Weg hierher, als
ich das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.
Jetzt bekommst du schon
Verfolgungswahn, Lovisa! Reg dich ab, es war ein Zufall!
Ich
grübelte noch eine Weile über die Angewohnheit nach, mit mir selbst zu reden.
Dann packte ich meine Sachen, um endlich nach Hause zu gehen. Der Abwasch
wartete. Der verschwand ganz sicher nicht einfach in einem Farbenspiel und
einem sich dehnenden Raum. Schade eigentlich.
Marita Sydow
Hamann
Die Autorin schreibt Kinderbücher sowie Fantasy und Romantasy für Jung und Alt.
Ihre Interessen sind die nordische und die griechische Mythologie mit all ihren Wesen.
Speziell Trolle findet sie faszinierend. Aber auch Geister, Elfen, Drachen, Magier, mystische Begebenheiten, Romantik und Science Fiction Elemente könnt ihr bei der Autorin finden.
Sie ist nicht auf ein Element festgelegt und immer offen für neue Ideen.
Die Autorin schreibt Kinderbücher sowie Fantasy und Romantasy für Jung und Alt.
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Homepage: http://www.marita-sydowhamann.com/
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