Sonntag, 19. Juni 2016

"Die Gedankenwenderin, Buch Eins der Mentalisten-Serie" von Kenechi Udogu


Titel der Originalausgabe:
"Aversion, The Mentalist Series Book One"

Übersetzerin:
Jana Köbel

Klappentext:

Für Gemma Green hätte das erste Mal ein Kinderspiel sein sollen: Finde deine Zielperson, blicke ihnen tief in die Augen und pushe einen Gedanken in ihren Kopf, um sie vor zukünftigen Katastrophen zu bewahren – Gedankenwendung vollbracht! Ein ziemlich einfacher Prozess, wenn man bedenkt, dass die Zielperson später keine Erinnerung an die Erfahrung haben sollte. Aber Russel Tanner scheint nicht vergessen zu wollen. Im Gegenteil, je mehr sie ihm aus dem Weg geht, desto mehr drängt er darauf sie näher kennenzulernen. Gemma weiß, dass sie in Schwierigkeiten ist, aber hat sie es mit den Nebenwirkungen einer schiefgegangenen Gedankenwendung zu tun oder hat sich der Tennis-Champion der Schule wirklich in sie verliebt? 
 
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 Leseprobe:

 Kapitel 3

An diesem Nachmittag war das Pintos leer. Selbst die üblichen zwei oder drei Leute, die sonst an den klebrigen Holztischen saßen und schon am frühen Nachmittag schales Bier tranken, waren nicht anwesend. Ich hatte keine Ahnung, wie die Eigentümer es schafften Gewinn mit dem Laden zu erzielen, aber an diesem Nachmittag war der Ort perfekt für mein Gespräch mit Russel. Und ja, ich war immer noch naiv genug zu glauben, dass ein einfaches Gespräch mit ihm sowohl den Grund als auch die Lösung des Problems offenbaren würde. Ich hasste es, Geheimnisse vor meinem Vater zu haben und ich wollte diese Sache nicht unnötig in die Länge ziehen. Vielleicht müsste ich Russel nur die richtigen Fragen stellen und alles würde sich aufklären.
Er kam ein paar Minuten nach mir herein und sah sich angewidert im Café um bevor er mich bemerkte und lächelnd auf mich zukam.
»Gute Wahl. Niemand bei klarem Verstand würde hier etwas essen wollen, also sind wir definitiv sicher«, scherzte er.
Er hatte Recht. Niemals hätte ich hier etwas bestellt, denn die Tische stanken nach altem Bier und Erbrochenem. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es in der Küche aussah.

»Okay, ich war noch nie hier drin, aber es schien mir der perfekte Ort für eine ungestörte Unterhaltung. Und das wolltest du doch, oder? Reden?«

Russel zuckte mit den Schultern und nahm die Speisekarte, um sie zu überfliegen. »Und miteinander abhängen, wie zwei normale Jugendliche. Verstehst du das Konzept?«

Wenn er nur wüsste, dass ich das Konzept wirklich nicht verstand.

»Siehst du, das ist mein Problem. Ich verstehe nicht, weshalb du überhaupt mit mir abhängen willst. Du hast all deine anderen Freunde. Und wenn die dir auf die Nerven gehen, kannst du deine Aufmerksamkeit bequem auf jedes andere Mädchen in der Schule lenken und es würde dir mit Freuden um den Hals fallen. Du und ich, wir haben ja nicht einmal eine gemeinsame Gesprächsbasis. Warum solltest du mit mir reden wollen? Und warum jetzt?« Es fiel mir schwer, nicht gereizt zu klingen.

Russel legte die Karte zur Seite und fixierte mich mit seinen Augen. Die Intensität seines Blickes verunsicherte mich, aber ich hielt ihm stand. Ich war gut in diesem Spiel: mehr als einmal hatte ich mich gegen angsteinflößende Leute im Bus behauptet. Seltsamerweise wirkte das aber nicht bei Russel. Es war, als suchte er etwas in meinen Augen – etwas, das seine unausgesprochenen Fragen beantwortete. Etwas, das ihm half zu verstehen, was in aller Welt hier vor sich ging.

Endlich sah er weg und seufzte. »Die Wahrheit? Ich weiß es nicht. Letzte Woche bin ich eines Morgens aufgewacht und du warst in meinem Kopf. Ich hatte einen unkontrollierbaren Drang mit dir zu reden. Natürlich bist du mir schon früher aufgefallen – du bist schwer zu übersehen – aber ich hatte immer das Gefühl, dass du unnahbar wärst und mich sofort abblitzen lassen würdest. Aber an jenem Morgen fühlte ich, dass etwas anders war. Wenn ich den Mut aufbringen könnte dich anzusprechen, würde es funktionieren. Und hier sind wir, in einem schmuddeligen kleinen Café, und reden. Ich vermute mein Gefühl war richtig.« Er grinste und sah mir wieder in die Augen, während mein Gehirn versuchte diese Informationen zu verarbeiten.

Was hatte er gemeint, als er sagte ich wäre schwer zu übersehen? Ich dachte, ich hätte die Technik der Unsichtbarkeit im Laufe der Jahre perfektioniert, aber offensichtlich musste ich noch daran arbeiten. Ich war zwar erleichtert zu hören, dass er nicht mehr als ein komisches Gefühl hatte, aber nichts von dem, was er mir bisher gesagt hatte, war für mich hilfreich. Ich konnte nichts von alledem nutzen, um seine Gedanken zu korrigieren. Einen Augenblick musterte ich ihn schweigend, bis mir bewusst wurde, dass er auf eine Antwort wartete. Ich sollte ihn beruhigen, ihm versichern, dass er bei klarem Verstand war und das Gesagte durchaus sinnvoll und begründet war. Damit würde ich aber einräumen, dass Menschen plötzlich aufwachen und den unheimlichen Drang verspüren konnten, Dinge zu tun, an die sie vorher nie gedacht hätten.

Ich entschied auf vertrautem Gelände zu bleiben und auf Gegenangriff zu gehen. »Erzählst du das jedem Mädchen?«

Zuerst sah er mich verständnislos an, als er aber sah, dass ein Lächeln meine Lippen umspielte brach er in nervöses Lachen aus. Warum hatte ich kein ernsteres Gesicht machen können, als ich das sagte?

Wieder nahm er die Speisekarte zur Hand und spielte damit. »Du bist mir immer aufgefallen, Gemma. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an die wenigen Male, die wir miteinander sprachen …«

»Wir haben niemals …«, begann ich zu protestieren, aber er unterbrach mich.

»Letztes Jahr auf der Exkursion zu diesem Kriegsdenkmal hast du mich gebeten dir Platz zu machen, damit du zu deinem Sitz kommen konntest.«

Ich starrte ihn ungläubig an. »Das zählt nicht.«

»Und ein anderes Mal konntest du ein Buch in der Bibliothek nicht erreichen und ich habe es für dich aus dem Regal geholt. Das war ebenfalls letztes Jahr.«

Ich war sprachlos. Diese Momente waren kaum der Rede wert. Ich hätte sie in einer Unterhaltung niemals erwähnt. Warum erinnerte er sich an diese Sachen? Es klang ja fast so, als ob … aber nein, das konnte nicht sein. Russel Tanner stand nicht auf mich. Dieses Gerede musste das Resultat meiner geistigen Manipulation sein. Ich konnte spüren, dass er glaubte die Wahrheit zu sagen, aber das bildete er sich nur ein. Warum sollte er ausgerechnet an mir interessiert sein? Und ich meinte das nicht in einer ‚Ich-bin-ein-Niemand-und-tue-mir-selbst-leid’-Art. Ich war tatsächlich ein sozialer Niemand, aber nicht unattraktiv. Ich hatte Jungs ertappt, wie sie mich anstarrten – und das schon bevor ich zwölf war und meinem Vater erklären musste, dass ich einen BH brauchte. Also konnte es nicht nur mein Vorbau sein, den sie anstarrten. Aber ich war nicht annähernd so hübsch wie einige der anderen Mädchen, mit denen er rumhing. Ich trug kein Make-up wie die meisten von ihnen (Lippenbalsam zählte nicht), obwohl ich mir die kleine Eitelkeit von Ohrsteckern erlaubte und mir Mühe gab, dass mein Haar möglichst gesund aussah. Vielleicht stand Russel auf schöne Haare und silberne Ohrstecker?

»Ich wünschte, du würdest aufhören mich anzustarren, als ob ich nur Unsinn rede.« Er klang überraschend verletzt und ich hatte beinahe Mitleid mit ihm. Aber ich musste daran denken, um was es hier ging und ihn sanft in eine andere Richtung steuern.
»Sieh mal, Russel, ich weiß, du bist davon überzeugt, dass du mein Freund sein willst, aber ich versichere dir, das wird nicht funktionieren. Wir haben nicht den gleichen Freundeskreis … was ich sagen will ist: ich habe gar keine Freunde und wir wissen beide, dass mich deine nicht mögen werden. Wenn ich aus unerklärlichen Gründen doch entscheiden sollte mit dir rumzuhängen, dann wäre es nur möglich an Orten wie diesen hier, wo uns niemand kennt. Willst du das wirklich? Was wirst du deinen Freunden erzählen, wenn sie dich fragen wo du warst? Ich weiß nicht, wie ich dich noch davon überzeugen soll, dass das hier«, ich machte eine Geste, die uns beide einschloss, »nicht praktikabel ist.«

»Ich will nichts Praktikables, ich will dich!«
 
Autorenvita:

Kenechi lebt in London und schreibt Romane und Erzählungen, die sich mit dem Fantastischen/Übersinnlichen beschäftigen.
Sie hat sieben Jugendbücher sowie Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.
Sie hasst Kälte und hofft, eines Tages herauszufinden, wie sie in einen Winterschlaf verfallen kann.

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