Klappentext:
Heinz findet es
bombig, endlich beim Jungvolk der Hitlerjugend zu sein. Die Aufmärsche, die
Sonnwendfeier mit dem Fackelzug, das Zeltlager und die Kameradschaft mit den
anderen üben große Anziehungskraft auf ihn aus. Lehrer und Jungenschaftsführer
tun alles, um ihn auf die Gesinnung der Nationalsozialisten einzuschwören.
Doch in seine
Begeisterung für Adolf Hitler mischt sich, durch die kritische Haltung seines
Großvaters, zunehmend Zweifel. Auch Irma, seine ältere Schwester lässt sich
nicht blenden. Sie macht eine schreckliche Entdeckung: Das behinderte
dreijährige Mariechen, das Heinz von klein auf kennt und ins Herz geschlossen
hat, ist durch das menschenverachtende Weltbild der Nazis in ernste Gefahr.
Heinz Misstrauen wächst. Dann bricht der Krieg aus.
Ein packender
historischer Roman für wache Menschen ab 11 Jahren.
Dieses Buch kann für
Klassenlektüren als Taschenbuch vorbestellt werden (6,80 €). Eine CD mit einem
130 Seiten umfassendes Lehrerhandbuch, Bild und Audiobeiträgen wird zu jedem
Klassensatz kostenlos mitgeliefert.
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Achtes Kapitel
Wie immer vor
den Sommerferien, schrieben sie in den nächsten Tagen und Wochen eine
Probearbeit nach der anderen.
Zum Glück hatte
Stemmler den Aufsatz über das Sonnwendfest ganz passabel gefunden, sodass Heinz
mit einer Drei im Zeugnis rechnen konnte.
In Mathe hatte Heinz
dagegen noch nie Probleme gehabt. Heute schrieben sie die letzte Rechenprobe im
Jahr.
Die ersten fünf
Aufgaben waren Kettenrechnungen mit einfachen Operationen, wie teilen und
malnehmen. Dann kamen zwei Textaufgaben:
Der Bau einer
Irrenanstalt erfordert 6 Millionen RM[i]. Wie viele Siedlungen
zu je 15. 000 RM hätte man dafür bauen können?
Die jährlichen Kosten
des Staates für einen Geisteskranken betragen im Durchschnitt 766 RM, ein
Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel 600 RM. In Anstalten werden auf
Staatskosten versorgt: 167.000 Geisteskranke, 8.300 Taube und Blinde, 20.600
Krüppel.
Wie viele Millionen
RM kosten diese Gebrechlichen jährlich? Wie viele erbgesunde Familien könnten
bei 60 RM durchschnittlicher Monatsmiete für diese Summe untergebracht werden?
Die erste Sachaufgabe
fand Heinz leicht. Bei der zweiten war ihm der Rechenweg zwar klar, aber es
bestand die Gefahr, dass er sich verrechnete, es waren eine Menge Zahlen. Er
nahm sich vor, alles noch einmal nachzuprüfen. Obwohl er an sich ein flinker
Rechner war, gehörte er deshalb zu den Letzten, die abgaben.
„Puh!“, stöhnte Siggi
beim Rausgehen. „Bei diesen blöden Textaufgaben weiß ich nie, was ich rechnen
soll.“
In der nächsten Stunde
arbeitete Stemmler mit ihnen die Probe an der Tafel durch. Heinz war ganz
zufrieden mit sich, schlechter als Zwei würde es wohl nicht werden. Nur Siggi
sah von Minute zu Minute verzweifelter aus.
„Da seht ihr mal, was
die Volksgemeinschaft für solche Ballastkreaturen für Geld rauswirft!“,
kommentierte Stemmler die Ergebnisse der Textaufgaben.
Hatte sich
Heinz beim Rechnen keine weiteren Gedanken über den Inhalt der Aufgaben
gemacht, fühlte er plötzlich inneren Widerstand. So gesehen, war Mariechen auch
eine Ballastkreatur. Und trotzdem! Sie war es wert, dass man sich um sie
sorgte!
Am Nachmittag
gingen die beiden Freunde zum Sportplatz, das machten sie jetzt fast täglich,
wenn das Gelände frei war.
Den
Sechzig-Meter-Lauf schaffte Siggi heute schon in den vorgegebenen zwölf
Sekunden. Beim Weitsprung haperte es allerdings noch. Wieder übertrat er
andauernd die Absprunglinie und fiel wie ein nasser Sack nach hinten um.
„Mensch Siggi!“,
pfiff ihn Heinz zurecht. „Das ist Weitsprung und nicht Nahfall! Zwei Meter
fünfundsiebzig ist doch wirklich zu schaffen!“
Im Schlagballwerfen
hatte Siggi hingegen keine Probleme, da warf er locker die verlangten
fünfundzwanzig Meter.
Da Heinz Siggi
versprochen hatte, täglich mit ihm zu trainieren, ging es mit dem Fahrrad nur langsam
voran. Hausaufgaben, Heimabende und der Dienst am Samstag verschlangen fast
seine ganze Freizeit. Außerdem hatte Jochen auch noch eine Altmetallsammlung
fürs Winterhilfswerk angeordnet, nachdem die Aufelder Jungenschaft im
Volksboten für ihre Altpapieraktion so ausdrücklich gelobt worden war.
Heute trafen
sich Heinz und Siggi deshalb nach dem Training mit Ehrhard und Alfred bei der
Mittelschule.
Ehrhard zog einen
Leiterwagen hinter sich her. Siggi, vom Sport noch ganz erledigt, warf sich
sofort hinein und hob die Hand zu salbungsvollem Gruß. „Untertanen!“, tönte er
theatralisch. „Bringt mich zum Schloss!“
Die Untertanen hatten
allerdings keine Lust, den selbst ernannten Herrscher zu chauffieren. Unter
Balgen und Gelächter warfen sie den protestierenden Siggi aus dem Gefährt und
zogen los.
Alfred schwang eine
Glocke und die Jungen riefen: „Altmetall fürs WHW! Spendet Altmetall!“
Schnell öffneten sich
schon die ersten Türen, und bald füllte sich der Leiterwagen mit Blechdosen,
alten Kochtöpfen und anderen ausgemusterten Metallgegenständen. Aus einem
Keller in der Zeppelinstraße durften die Jungen eine gusseiserne Herdplatte
mitnehmen. Obwohl sie zu viert waren, schafften sie es kaum, das schwere Ding
die Treppe hochzukriegen.
Die Hausfrau war
sichtlich erleichtert, dass das sperrige Teil aus dem Weg war, und bedankte
sich mit einer Stange Drops bei den fleißigen Helfern.
Nachdem Heinz die
Bonbons gerecht verteilt hatte, schoben sie den Wagen, der unter der Last
gefährlich knarzte, mit vereinten Kräften zu Peller, dem Schrotthändler.
Früher hatte die
Schrotthandlung dem Juden Meusch gehört, aber seit jener Novembernacht im
letzten Jahr, war der alte Mann spurlos verschwunden.
„Den Meusch haben sie
weggejagt“, hatte Siggi einmal gesagt. „Wir brauchen diese Volksschädlinge hier
nicht!“
Nicht, dass Heinz
Meusch besonders gemocht hätte. Der Schrotthändler hatte sie immer vergrault,
wenn sie sich auf dem Platz herumtrieben. Dabei war das Gelände doch so ein
erstklassiger Spielplatz. Aber Heinz fragte sich heute noch, wie der Alte dem
deutschen Volk wohl Schaden hätte zufügen können.
Jetzt gehörte der
Schrottplatz Peller. Und der war bestimmt nicht besser! Der hatte sich sogar
einen scharfen Schäferhund angeschafft.
In gebührendem
Abstand blieb die Gruppe vor dem Eisentor stehen. Pellers Schäferhund kläffte
wütend. Der Schrotthändler schlurfte aus seiner Wellblechhütte, sperrte den
Hund ein und öffnete ihnen. Jetzt erst trauten sich die Jungen auf den Platz,
um ihre Ladung auf die Schrottwaage zu legen. Als sie die gusseiserne Platte
darauf wuchteten, schoss die Anzeige steil nach oben.
„Mensch!“, rief
Siggi. „Das soll uns mal einer nachmachen!“
Ohne eine Miene
zu verziehen, kramte Peller ein paar Münzen aus seiner zerschlissenen Hose und
drückte sie Ehrhard in die Hand. Dann verschwand er wieder in der Hütte. Die
Jungen beeilten sich, den Platz zu verlassen, ehe er den Hund wieder frei ließ.
Ehrhard schob das Geld in die Hosentasche. Keiner seiner Freunde machte sich
auch nur die geringsten Sorgen darüber, dass er es für sich behalten könnte.
Das war Ehrensache!
Als Heinz
heimkam, war es Abend geworden. Im Treppenhaus traf er auf Frau Arnold, die das
schlafende Mariechen aus dem Kinderwagen hob.
„Halt sie bitte mal!“
Damit reichte sie Heinz das Kind, um den Wagen unter der Treppe zu verstauen.
Heinz fühlte den
kleinen warmen Körper schwer in seinen Armen. Mariechens Kopf lag
vertrauensvoll an seiner Schulter. Helle Löckchen fielen in ihr blasses
Gesicht, ihre blauen Lippen waren leicht geöffnet.
Beklommenheit
überfiel ihn. Nein!, dachte er. Das Mariechen ist nicht lebensunwert! Wie
schade, dass der Führer sie nicht kennt. Wo er Kinder doch über alles liebt! ...
[i] RM/Reichsmark:
Nach dem Krieg wurde die DM, die Deutsche Mark eingeführt.
Vita:
Brigitte Endres hat Grundschulpädagogik,
Germanistik und Geschichte studiert. Heute arbeitet sie als Kinderbuchautorin
für Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie für den
Bayerischen Rundfunk. Ihre Bücher wurden in viele verschiedene Sprachen
übersetzt.
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