Klappentext
Oriana, die junge Hexe von Ossian, hat eine Vision. Sie sieht, wie
sich eine große Dunkelheit aus alten Zeiten vom Meer her über das Land senkt
und alle Menschen vernichtet. Sie prophezeit aber auch sieben Reiter, die gegen
das Verhängnis kämpfen.
Auf einem Bankett des Königs wählt Oriana ihre sechs Mitstreiter. Der
Geschichtenerzähler Joel und sein ehemaliger Schützling Erwenk sind dabei.
Einen Hinweis kann Oriana noch geben. Im Traum erscheint ihr drei Mal
die Schlange Krah, die oberste Gottheit der Hexen von Ossian, und spricht:
»Folgt der Spur des Einhorns!« Aber wie sollen die sieben Kämpfer dieses
Fabeltier finden? Und was bedeuten die geheimnisvollen Zeichen, die ihnen auf
ihrem Weg begegnen?
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Herein traten zwei weibliche Gestalten in
türkisfarbenen Umhängen, die bis zum Boden reichten. Die Kapuzen hatten sie
tief ins Gesicht gezogen. Ein Ruck ging durch Joel und er richtete sich
alarmiert auf, denn in einer der Gestalten erkannte er die Frau wieder, die er
im Spiegel in der Schatzkammer des Königs erblickt hatte. Auch auf ihrer
Kapuze, wie der ihrer Begleiterin, prangte eine gestickte, goldene Schlange.
»Zwei
Hexen von Ossian«, rief Alek erstaunt aus. »Wo kommen die denn her? Ich dachte,
die seien längst verschwunden.«
»Zwei
Hexen von Ossian!« Der ältere Priester des Balialo quiekte fast vor Entsetzen.
»Sie wollen uns verzaubern und durch ihre Schönheit verliebt machen und zur
Sünde verführen. Schau nicht hin!« Er riss sich und seinem jüngeren Begleiter
die Kapuzen über die Köpfe. Er faltete die Hände, senkte die Augen darauf und
bewegte die Lippen. Wahrscheinlich betete er.
»Stellt
euch nicht so an«, sagte Alek verärgert. »Sie sind völlig harmlos. Ein Großteil
ihrer Zauberei beruht auf Täuschung und dem geschickten Ausnützen natürlicher
Phänomene, wovon sie allerdings ein beachtliches Wissen haben. Nur eure Angst
macht euch zugänglich für solches Hexenwerk.«
(…)
Die
eine Frau schlug ihre Kapuze zurück. Sie enthüllte glänzendes kastanienbraunes
Haar, das ihr glatt bis auf die Schultern fiel. Ihr Gesicht war schmal und
oval, die Nase und das Kinn sprangen scharf hervor. Ihr Mund war breit, mit
schmalen Lippen. Am bemerkenswertesten waren ihre Augen. Sie waren innen von
einem hellen, durchscheinenden Grau, das gegen das Weiß von einem beinahe
schwarzen Kranz begrenzt wurde. Joel konnte nicht sagen, ob es die schönsten
oder die hässlichsten Augen waren, die er je gesehen hatte.
»Seid
gegrüßt, König Teldek von den Mittleren Ländern«, sprach Elexia. »Und auch Ihr,
hohe Gäste.« Elexia wies auf ihre Begleiterin, diejenige, die Joel im Spiegel
gesehen hatte. »Und dies ist Oriana, die Perle unserer Gemeinschaft.« In
Elexias Stimme war etwas, das die Spannung auf den Höhepunkt trieb. Oriana
schlug ihre Kapuze zurück. Ein Raunen ging durch die Gästeschar. Es galt der
unbestreitbaren Schönheit dieser jungen Frau, die gerade frisch dem
Mädchenalter entwachsen war. Auf ihren makellosen Wangen waren die Rundungen
der Kindheit noch zu ahnen. Die Flügel der fein geschnittenen Nase bebten wie
in einem leisen Windhauch. Ihre großen Augen waren von einem tiefen Blau,
beinahe violett. Ihre Haut strahlte einen leichten Schimmer aus wie die
wertvollsten Perlen. All das wurde aber vollendet in dem goldenen Haar, das auf
komplizierte Weise geflochten und zu einer Art Krone zusammengesteckt war. Sie
müsste die Königin sein, schoss es Joel durch den Kopf. Nicht einmal Lene kam
mit einer solchen Schönheit mit.
(…)
Oriana
hob die Arme bis zu ihrer Mitte und machte mit ihnen eine wellenförmige
Bewegung. Dann formte sie sie als hielte sie eine Schale. Ihr Blick wurde starr
und abwesend.
»Ich
sah ...« So verschleiert Orianas Augen auch waren, ihre Stimme war klar – und
zauberhaft. »Ich sah, wie eine große Dunkelheit sich erhob. Sie kam von alten,
fernen Zeiten. Vom Meer her erhob sie sich und verdüsterte den Himmel. Die
Dunkelheit zog heran und erreichte das Land. Ich sah, wie das ganze Land sich
verdunkelte. Und die Menschen sanken dahin und wanden sich in Schmerzen.
Männer, Frauen, Kinder schrien auf, aber ihre Schreie konnten sie nicht retten.
Alle Menschen starben unter der großen Dunkelheit.«
Oriana
senkte den Kopf. Die Gäste des Königs hielten den Atem an. Das konnte, das
durfte doch noch nicht alles gewesen sein. Die Blicke hefteten sich
hoffnungsvoll auf Orianas Arme, die sich noch nicht gesenkt hatten. Und
tatsächlich hob die junge Hexe den Kopf wieder und lenkte ihre Augen nach oben
zur Decke.
»Ich
sah ...«, fuhr Oriana fort »… ich sah erneut, wie sich die Dunkelheit über das
Meer erhob und gegen das Land lenkte. Doch diesmal sah ich sieben Reiter über
das Land heranpreschen.
Sie
hoben ihre Fäuste. Ich sah sie, wie sie gegen die Dunkelheit vordrangen. Ich
hörte eine Stimme sagen: Sieben werden gehen, sieben werden zurückkehren.«
Oriana
hielt inne. Dann senkte sie langsam die Arme und schloss die Augen.
(…)
Wieder
machte Oriana mit ihren Armen die wellenförmige Bewegung und ihre Augen
verschleierten sich. »Mir träumte, die große Schlange Krah kam zu mir. Sie
richtete ihren Körper auf und züngelte. Daraufhin hörte ich die Worte: ›Folgt
der Spur des Einhorns!‹ Dreimal träumte mir so
und dreimal sprach die Schlange Krah zu mir: ›Folgt
der Spur des Einhorns!‹« Oriana ließ die Arme
sinken und schloss erschöpft die Augen.
Joel staunte. Die Schlange Krah war ein Teil des
Glaubens der Alten Zeit vom Ursprung der Welt und der Menschheit. Krah und ihr
Gatte Brah erschufen in einem Wettkampf das All, die Erde, mit allem, was
darauf kreuchte und fleuchte, und schließlich die Menschen, bis der
eifersüchtige Brah die Schlange erschlug und sich in seiner Trauer in eine
dunkle Höhle zurückzog. Noch heute drohte man unartigen Kindern, sie würden in
Brahs Höhle enden. Sie galt als das Sinnbild der Dunkelheit, Kälte und Hoffnungslosigkeit
schlechthin.
Autorenvita
Jutta Schönberg
ist promovierte Germanistin und lebt in Tübingen. Weiterbildung als
PR-Referentin. Anschließend verschiedene Tätigkeiten, u. a.: Redakteurin für
das Presseamt der Universität Tübingen, Projektkoordinatorin für die kommunale
Frauenbeauftragte und PR-Beraterin. Wissenschaftliche und journalistische
Publikationen. Derzeit freie Autorin und Redakteurin. Seit 2009
Veröffentlichung mehrerer Kurzgeschichten, vor allem im fantastischen Bereich, aber
auch in anderen Gebieten. Zweiter Platz beim Frederic-Brown-Award 2009 mit
„Zwei Spaziergänger“. 2016 Veröffentlichung von „Erwenks Entdeckung”, „Joels
Probe” und „Orianas Vision” (E-books), den ersten drei Teilen einer
Fantasyromanreihe mit dem Titel „Joels Lieder”. Mitglied der Tübinger
Autorengruppe 'LiteRatten'.