Ein Gesicht ohne Nase sieht Bryanna aus einem Fenster eines Wohnhauses in Edinburgh an, und eine behaarte Hand winkt ihr. Ein Brownie! Sie blinzelt und schüttelt den Kopf. Unmöglich. Brownies gibt es nur in Büchern. Doch der Brownie ist nicht das einzige Fabelwesen, das ihr auf dem Heimweg begegnet. Vielleicht halluziniere ich, denkt sie und beschließt, mit ihrem Vater zu reden.
Doch der wird vor ihren Augen von einer Fremden
entführt, deren Geruch Bryanna seltsam bekannt vorkommt. Ohne zu zögern folgt
sie den beiden und landet Hals über Kopf im Abenteuer ihres Lebens. Die Welt,
in die sie gerät, ist mörderisch gefährlich. Und falls sie die Reise überlebt,
scheint sie dazu verdammt, ihren Vater wegen seines Geheimnisses töten zu müssen.
Das Hörbuch erscheint im Herbst 2015
Kapitel Eins
Bryanna saß in der oberen Etage
eines rötlich-braunen
Doppeldeckerbusses. Da der Bus bereits gut besetzt war als sie einstieg, hatte
sie keinen der vorderen Sitze ergattern können und saß nun direkt an der Treppe. Mit roten Ohren starrte
die Vierzehnjährige aus dem Seitenfenster. Sie spürte förmlich die fragenden
Blicke der anderen Fahrgäste. Verschämt sank sie tiefer in ihren Sitz, denn sie war die
Einzige in Schuluniform. Am ersten Ferientag! Warum musste mir Jenny
ausgerechnet heute Kaffee auf die Hose schütten, dachte sie. Es ist megapeinlich in den Ferien
in Schuluniform rumzulaufen. Ich hätte nicht bei Jenny übernachten sollen.
Sie schielte auf den
Monitor der Überwachungskameras in der Nähe der Frontscheibe,
der abwechselnd die untere und die obere Etage zeigte. Eine Gruppe halbwüchsiger Mädchen sah kichernd
aus dem Fenster und zeigte auf einen Mann im Kilt. Die anderen Leute starrten
aus den Fenstern oder lasen Zeitung. Niemand beachtete sie. Sie entspannte
sich. Ihr Handy klingelte.
„Schatz”, sagte ihr Vater. „Schnapp dir eine Sun und lies den Artikel auf der
Titelseite.”
„Ich sitze im Bus, Dad.” Bryanna hielt die
Hand vor den Mund und flüsterte. „Ich habe keine Zeitung.” Zwei Männer gingen auf dem
Weg nach unten an ihr vorbei.
„Sieh dich um. Irgendjemand lässt immer eine
liegen. Zeitungen gehören zu Bussen, wie Nessi zum Loch. Wahrscheinlich
liegt eine gleich neben dir auf dem Sitz.”
Er hatte recht. Dort
lag eine Zeitung auf einem frei gewordenen Sitz auf der anderen Seite des
Ganges. Bryanna war sich sicher, dass sie eine Minute zuvor nicht dort gewesen
war. Woher wusste Dad, dass hier eine Zeitung sein würde?
Sie sah sich um. Wahrscheinlich hat
sie einer der Typen, die grade an mir vorbeigegangen sind, liegen gelassen.
Schließlich kann Dad nicht
zaubern. Sie beugte sich vor und las
die Schlagzeile.
Deutsche vom Loch Ness Monster angegriffen.
Das war genau die
Art Artikel für die ihr Vater interviewt werden würde. Bryanna nahm
die Zeitung und las.
Die 18-jährige Schülerin behauptet am Montagabend
vom Loch Ness Monster angegriffen worden zu sein. Ihre Reisegruppe war auf
einer Wanderexpedition durch den Westen Schottlands. Nachdem die Jugendlichen
trotz des ungemütlichen Wetters
ihre Zelte am Ufer von Loch Morar aufgestellt hatten, ging das Mädchen zum Wasser hinunter.
Wenige Minuten später wurde der
Rest der Gruppe von ihren Schreien herbeigelockt, wo sie das Mädchen bewusstlos vorfanden.
Die Achtzehnjährige stand
unter Schock und wurde in ein nahe gelegenes Krankenhaus eingeliefert. Sie behauptet
das Monster sei direkt vor ihr aufgetaucht. Sein Kopf hätte die Größe eines kleinen Elefanten
und es hatte kleine, aber sehr scharfe, spitze Zähne.
Kryptozoologe Prof. Angus McConnachie …
Bryanna unterbrach
die Lektüre. „Dad, was meinst du,
wie viele Leser der Sun wissen wohl, dass sich die Kryptozoologie mit den Ursprüngen und Hintergründen von
mythologischen Wesen beschäftigt?”
Ihr Vater lachte,
was verzerrt und metallisch durch das Handy klang. Bryanna schob es tiefer in
ihre Halsbeuge, damit es nicht wegrutschte. In Gedanken änderte sie den
Satzanfang in „Monsterjäger Angus McConnachie…”
…bestätigt, dass die detaillierte
Beschreibung des Mädchens der von
anderen Augenzeugen entspricht. Allerdings geht er nicht von einem Angriff aus,
zumal alle unverletzt geblieben sind. Er weist darauf hin, dass seit dem
Mittelalter niemand mehr von einem Loch-Monster angegriffen wurde. Natürlich wird seine
Sachkenntnis von einigen Forschern der Universität Edinburgh angezweifelt. Professor Duncan McNicholl …
Bryanna legte die
Zeitung zur Seite. Sie wusste, dass ihr Vater in der von Logik dominierten Welt
der Wissenschaft nicht sehr willkommen war. Zu seltsam war das Thema, dem er
sein Leben gewidmet hatte.
Die Stimme ihres
Vaters unterbrach ihre Gedanken.
„Ein Artikel über meine Forschung auf der Titelseite! Ist das
nicht wunderbar?”
„Ja, Dad”, sagte Bryanna, aber sie lächelte nicht. Was
war schon so Besonderes daran, sich vor aller Welt lächerlich zu machen.
„Bring die Zeitung mit. Ich will deiner Mutter eine
Kopie schicken.”
„Ja, Dad.” Bryanna zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich
ist Mutter an dem Artikel genauso interessiert, wie an meiner Erziehung. Sie
schaltete das Handy aus und steckte es mit der Zeitung zusammen in ihren
Ranzen. Sie seufzte erneut und sah aus dem Fenster.
Eine Hand berührte ihre Schulter
sanft, und eine seidige Stimme flüsterte: „Sag deinem Vater, seine Zeit wird knapp.”
Als Bryanna
herumfuhr, stieg die Frau bereits die Treppe hinunter. Sie war rundlich gebaut
und hatte ein Vollmondesicht mit einer Stupsnase. Irgendwie erinnerte sie
Bryanna an einen Seehund. Kurz bevor sie außer Sicht geriet, winkte sie. Ihre Finger waren
durch Schwimmhäute miteinander verbunden. Bryanna schüttelte den Kopf. Das
kann nicht sein. Ich muss es mir eingebildet haben. Sie zog den Schulranzen und
die Tasche mit den schmutzigen Sachen dichter an sich heran. Ich wünschte Vater hätte mich abgeholt.
Der Bus erwachte zum
Leben, verließ St. Andrew’s Station und rollte mit einer schneckenartigen
Geschwindigkeit die Straße entlang. Bryanna sah aus dem Fenster und ließ ihren Blick über das übliche Verkehrschaos
in Edinburghs Innenstadt schweifen. Die Straßen um den Busbahnhof waren trotz des Nieselregens
so überfüllt wie immer. Einem
Dudelsackpfeifer, der unter der Markise eines Souvenirladens auf dem Bürgersteig stand,
gelang es ein paar Mal, beim Versuch Touristen anzulocken, den Verkehrslärm zu übertönen. Die wehmütige, schnarrende
Melodie drang durch eine offene Klappe in einem der Seitenfenster des Busses.
An der Kreuzung zum
Waverley Bahnhof reihte sich eine schwarze Kutsche vor dem Bus ein. Es war
keiner der offenen Einspänner für Touristen, sondern ein geschlossener Vierspänner. Die Tür zierte ein Wappen,
aber Bryanna hatte nicht genug Zeit, es genauer zu betrachten.
Wie schön, dass es immer
noch Leute gibt, die mit Pferd und Wagen fahren. Sie stellte sich vor, wie es
gewesen sein musste, als die Stadt noch mit Reitern, Karren und Kutschen
verstopft war, nicht mit Autos. Sie ignorierte die Häuser auf der rechten
Straßenseite mit ihren
vielen Geschäften und den zahlreichen Fußgängern und ließ ihren Blick träumerisch über die linke Straßenseite wandern.
Die gelblichen
Steinfinger von Edinburgh Castle ragten aus den dunklen, steilen Basaltfelsen
am Rande von Princess Street Gardens in den Himmel. Im Park, der sich vom
Waverley Bahnhof mehrere hundert Meter nach Westen erstreckte, schoben die
ersten Blumen ihre Köpfe durch die matschige Erde. So grau der Garten
auch wirkte, der Frühling war unterwegs. Hoffentlich fährt Papa mit mir mal
wieder in die Highlands, wenn das Wetter besser wird.
Als der Bus die Türen für weitere Fahrgäste öffnete, starrte sie
auf den schmalen Garten zu Füßen des Schlosses und malte sich aus, was sie mit
ihrem Vater in den Ferien alles tun würde. Das Gras der Parkanlage wirkte müde und blass. Nur
einige Schneeglöckchen kämpften gegen die graue Nässe, die das Frühjahr in Edinburgh
dominierte. Nicht weit von der Haltestelle saß ein gigantischer Vogel im Geäst eines kahlen
Baumes und betrachtete die Tauben auf dem Weg darunter. Der feine Regen ließ sein schwarzes
Gefieder glänzen wie Obsidian. Er war mindestens doppelt so groß wie ein Mensch.
Sein Hakenschnabel klappte hungrig auf und zu, während die Krallen an seinen Schwimmfüßen tiefe Löcher in dem Ast
hinterließen, auf dem er saß.
Ein Boobrie! Bryanna starrte
den Sagenvogel mit offenem Mund an. Das Zischen der Türen
ließ
sie zusammenzucken. Sie sah zu den Menschen hinunter, die sich auf dem schmalen
Bürgersteig
an den wartenden Fahrgästen
vorbei schoben. Keiner schien den Riesenvogel zu bemerken.
Bin ich denn die
Einzige, die ihn sehen kann? Der Boobrie breitete seine gewaltigen Schwingen
aus und flog höher und höher, bis er im Blau des Himmels kaum noch zu sehen
war. Bryanna sah ihm zu, wie er über dem Schloss kreiste, das mit seinen massiven Wänden und Türmchen den Park und
das Stadtzentrum überragte. Sie schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich werde verrückt. Ein Boobrie! Da
hat mir meine Fantasie wieder einen schönen Streich gespielt. Bryanna wendete den Blick vom
Schloss ab. Und es war so unglaublich realistisch. Ich muss noch einmal mit
Vater reden. Vielleicht sollte ich doch einen Psychiater aufsuchen.
Um sich abzulenken,
betrachtete Bryanna die Läden und Häuser auf der anderen Straßenseite. Sie waren
drei oder vier Stockwerke hoch und bis auf die Mündungen der Seitenstraßen lückenlos
nebeneinander gebaut. Der Bus quälte sich von Ampel zu Ampel, so dass Bryanna genug
Zeit hatte, in die Fenster der Gebäude zu gucken. Da es sich überwiegend um Läden handelte, war
das Spiel nicht so spannend wie in einer Wohngegend, aber es lenkte sie von der
Frau mit den Schwimmhäuten und dem Boobrie ab.
Wieder hielt der Bus
an einer Ampel. Ein braunes, faltiges Gesicht mit wilder, rotbrauner Löwenmähne und ohne
erkennbare Nase sah aus einem Fenster, und eine kleine, braune Hand winkte ihr
zu. Es war eindeutig einer der helfenden Hausgeister, die Brownies genannt
wurden. Bryanna schlug die Hände vor das Gesicht.
„Es gibt keine Fabelwesen”, flüsterte sie mehrmals.
Es war wie ein Gebet oder ein Zauberspruch, und es half. Als sie die Hände wieder sinken
ließ, war der Brownie
verschwunden. Besorgt betrachtete sie die Fassaden der Häuser und die großen Schaufenster der
Geschäfte, sah aber keinen
weiteren Brownie.
Sie atmete
erleichtert auf. Der Bus schob sich durch den Feierabendverkehr, hin und wieder
durch Bauarbeiten behindert. Geschäftig wie Ameisen eilten auf den Bürgersteigen
Menschen verschiedenster Rassen hin und her. Als kein weiteres Fabelwesen
auftauchte, entspannte sich Bryanna und sah auf den Monitor der Überwachungskameras.
Er zeigte ihr die Fahrgäste auf den Sitzen hinter ihr. Viele waren bereits
ausgestiegen, und so waren die meisten blauen Sitze mit dem rot-grün-weißen Tartanmuster
leer. Ein Mann auf dem Bürgersteig betrachtete die Auslage eines
Comic-Shops.
Nur noch wenige
Haltestellen bis zu Bryannas Stopp, und noch immer fuhr die schwarze Kutsche
vor dem Bus durch den Regen. Bryanna fragte sich, wo sie wohl hin wollte. Sie
war fast ein wenig enttäuscht, als der Bus zum Salisbury Place einbog, und
die Kutsche geradeaus fuhr. Ich wünschte, ich könnte sie Dad zeigen. Das würde ihm gefallen.
Bryannas Magen knurrte. Gut, dass es bald Mittagessen gibt. Das gemeinsame
Mittagessen in ihrem viktorianisch eingerichteten Speisezimmer war ein kleines
Ritual. Sie liebte es, ihrem Vater von der Schule zu erzählen oder seiner
tiefen Stimme zu lauschen, auch wenn sie seine neuesten Forschungsergebnisse
nicht besonders interessierten. Ihr Vater gab ihr das Gefühl bereits erwachsen
zu sein. Für ihn war sie jemand, mit dem er sich über alles
unterhalten konnte.
Der Turm der Kapelle
am Eingangstor des Friedhofs kam in Sicht. Bryanna nahm ihre Taschen und drückte den Knopf, der
den Fahrer aufforderte, den Bus anzuhalten. Vorsichtig stieg sie die Treppe
hinunter und verließ den Bus, kaum dass er hielt. Draußen zog sie die
Kapuze des Regenmantels über ihre schwarzen Zöpfe und ging den schmalen Weg an der Friedhofsmauer
entlang nach Hause.
Katharina Gerlach wurde 1968 geboren und wuchs mit drei jüngeren
Brüdern mitten in einem Wald im Herzen der Lüneburger Heide auf. Schon früh
verschwand sie tagelang in magischen Abenteuern, vergangenen Zeiten oder
unheimlichen Märchenwäldern, denn auch junge Wilde lernen irgendwann Lesen.
Es blieb nicht beim Lesen. Während einer Lehre zur
Landschaftsgärtnerin schrieb sie ihren ersten Roman, ein Buch voller Anfängerfehler.
Zum Glück gab es auch Bücher darüber, wie man es richtig macht, und so
erschienen bald die ersten Kurzgeschichten.
Zurzeit lebt sie mit ihrem Mann, drei Kindern und einem
Hund in einem Häuschen nicht weit von Hildesheim und – na, was wohl – schreibt
an ihrem nächsten Roman.
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